Vermittlung Magazin

Uraufführung des Magnificat op. 157 von Wolfgang Gabriel

Jubiläumskonzert anläßlich des einhundertjährigen Bestehens der Bachgemeinde Wien

Das Jahr 2013 ist aus Sicht der Musikwelt an Feieranlässen nicht gerade arm. Mit Benjamin Britten (100), Giuseppe Verdi oder Richard Wagner (200) feiern nicht nur zahlreiche bedeutende Musikerpersönlichkeiten ihre jeweiligen runden Geburtstage, es werden auch die Todestage von Paul Hindemith (50), Arcangelo Corelli (300) und Carlo Gesualdo (400) begangen. Speziell in Wien sind heuer zahlreiche Hunderter zu feiern. Ja, gerade das Jahr 1913 scheint eine Art Kontinuum zu sein: vor einhundert Jahren wurde das Wiener Konzerthaus eröffnet, das "Watschenkonzert" machte als Konzertskandal die Wiener Schule um Arnold Schönberg legendär, und die Bachgemeinde Wien wurde von Alexander Wucherer, einem Schüler des Musikwissenschaftlers und Komponisten Eusebius Mandyczewski, begründet.

 

Passend zur Aufgabe, der sich diese Gemeinschaft seit 100 Jahren zunächst als reines Instrumentalensemble verschrieben hatte, feierte die Bachgemeinde Wien am vergangenen Samstag diesen Anlass mit einem anspruchsvollen Jubiläumskonzert ihres BAchCHores und der Wiener Bachsolisten unter Leitung von Wolfgang Gabriel und Ernst Wedam. Im Zentrum standen unterschiedliche Magnificat-Vertonungen aus rund 350 Jahren, wie der Wiener Musikwissenschaftler Simon Haasis in seinem Programmheftbeitrag1 herausgearbeitet hat. Selbstverständlich gehörte dazu das festliche Magnificat BWV 243 und die Kantate Meine Seel’ erhebt den Herrn BWV 10 von Johann Sebastian Bach, sowie das Magnificat SWV 426 von Heinrich Schütz, und als besonderen Höhepunkt das 2011 entstandene Magnificat op. 157 von Wolfgang Gabriel.

 

Letzteres wurde vom Komponisten selbst dirigiert. Der am 09. Juni 1930 geborene Wolfgang Gabriel, vormals ordentlicher Professor an der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und von 1988 bis 2011 künstlerischer Leiter der Bachgemeinde Wien, leitete Chor und Orchester, die die Solistin Angharad Gabriel (Sopran) begleitete, mit vervre und esprit. Wie Haasis im oben erwähnten Aufsatz (S. 7) folgerichtig festgestellt hat, fasst Gabriel das Magnificat auf dramatische Weise auf, d.h., er gestaltet es als sakrale Szene. Maria, behutsam und mit klangschöner Stimme von Angharad Gabriel gestaltet, durchlebt ihr individuelles mystisches Erlebnis und wird dabei zunächst "nur" vom Frauenchor sekundiert. Wie Wolfgang Gabriel selbst anmerkt2, entstand diese Idee aus dem Wunsch heraus, als Komponist des 21. Jahrhunderts einen eigenen Weg zwischen Schütz und Bach zu gehen. Deshalb lasse er die Männerstimmen nur bei Worten hinzutreten, "deren Allgemein-Gültigkeit nicht unbedingt die Jungfrau Maria als Veranlasserin erkennen lässt, etwa bei 'fecit potentiam braccio suo' und ähnlichen Stellen."3 Vor diesem Aspekt ergibt sich ein höchst reizvolles "Wechselspiel von Individuum und Kollektiv, also von Solo und Chor, welches "musikalisch zelebriert" wird (S. 7).

 

Und wie ist die Komposition ausgeführt? Gabriel arbeitet mit einer unideologisch wie undogmatisch verwendeten Zwölftonreihe – also als Materialreservoir, das die Möglichkeit zu einem Changieren zwischen dodekaphonen und tonikalen Passagen offen lässt. Die Enthobenheit der oben beschriebenen mystischen Szene erhält dadurch nochmals besondere Unterstützung. Wenn nämlich beispielsweise nach einem pointierten, dodekaphonen Orchesterzwischenspiel mit dem ersten Einsatz der Solotrompete plötzlich die Stimmung zum tonikal gehaltenen "Sucepit Israel" kippt, dann wird dies evident. Selbes gilt für die glänzende forte-Passage des "Sicut locutus est", welches abgelöst wird durch ein hochmelodiöses "Abraham et semini eius in secula". Gabriel verzichtet im übrigen auf eine Vertonung des abschließenden "Gloria", welches schließlich im Lukas-Evangelium nicht enthalten ist, und lässt stattdessen die Komposition nach einem Orchesterzwischenspiel, welches bereits erklungenes Material verarbeitet, mit einer „gesteigerten Prosa“ des gesamten Textes durch den Solo-Sopran enden. Besonders hervorzuheben ist an dieser Magnificat-Vertonung zuletzt seine glänzende Instrumentation für Kammerorchester (1 Flöte, 2 Oboen, 1 Fagott, 1 Trompete in C und Streicher). Als Solisten der Wiener Bachsolisten ist dabei vor allen Dingen Robert Pinkl (Flöte) und Gerhard Berndl (C-Trompete) ein Lob auszusprechen.               

 

Vor dieser Uraufführung erklangen als Eröffnung des Konzertes die Orchestersuite Nr. 1 in C-Dur BWV 1066 von Johann Sebastian Bach, welche nach der Ouverture von Ansprachen des Obmannes Michael Burggasser und dem Enkel des Vereinsbegründers Wucherer unterbrochen wurde, und das

Deutsche Magnificat SWV 426 von Heinrich Schütz. Auch hier zeigten die Wiener Bachsolisten unter Ernst Wedam ihr hohes musikalisches Niveau. Die für die Akustik der Minoritenkirche nicht unproblematische Orchestersuite wurde feinsinnig und behutsam musiziert. Besonders hervorzuheben sind dabei die glänzenden Leistungen des Holzbläserregisters (Andrea Strassberger, Anna Oslansky und Giuseppe Monopoli) in der Forlane und den Gavotten. Am Deutschen Magnificat von Schütz gelang es dem Bachchor auf glänzende Weise die berührende Simplizität dieser Komposition herauszuarbeiten.  

 

Der zweite Konzerteil stand schließlich ganz im Zeichen Johann Sebastian Bachs. Hier war neben dessen Magnificat auch die Kantate BWV 10 Meine Seel’ erhebt den Herrn zu hören, welche über die Verwendung des neunten Psalmtones des Gregoranischen Chorales, mit welchem das Magnificat im liturgischen Kontext zu singen ist, verbunden sind. Der Bachchor war hier gemeinsam mit dem Solistenquartett von Christina Stegmaier (Sopran), Monika Schwabegger (Alt), Martin Fournier (Tenor) und Alexander Puhrer (Bariton) zu hören. Zu Höhepunkten gelangen hier mit Sicherheit die Sopranarie, die Bassarie mit konzertierendem Solo-Cello (filigran musiziert von Olena Mishichi, Chapeau!), das Duett zwischen Alt und Tenor und das dramatische Tenorrezitativ.  

 

Gemeinsam mit diesem Solistenquartett und der hinzukommenden Angharad Gabriel (Sopran II) erklang zum krönenden Abschluss das Magnificat BWV 243. Hier ist neben den solistischen Leistungen besonders die des Chores zu loben. Bedenkt man, dass es sich beim Bachchor der Bachgemeinde Wien um einen "Liebhaber-Chor" im wahrsten Sinne des Wortes handelt, so ist vor allen Dingen die Fuge "Sicut locutus est" und der Schlusschor "Gloria Patri" exzellent gelungen. Keinesfalls dick, sondern filigran und hochmusikalisch gelangen diese durchaus als schwierig zu bezeichnenden Passagen.       

 

Der Bachgemeinde Wien ist nicht nur zu ihrem einhundertsten "Geburtstag", sondern auch zu diesem glänzend musizierten Jubiläumskonzert zu gratulieren.  

 

Max Vincent Fidomski




  1. Vgl. Simon Haasis: „Das Magnificat als stetig neu erfundene Tradition“, in: Programmheft zum Jubiläumskonzert Magnificat x 3 der Bachgemeinde Wien am 25. Mai 2013 in der Minoritenkirche, Wien 2013, 4–8 (im Text angegebene Seitenzahlen verweisen, wenn nicht anders angegeben, auf diesen Text).
  2. Vgl. Wolfgang Gabriel: „Zu meiner „Magnificat“-Komposition“, in: Programmheft zum Jubiläumskonzert Magnificat x 3 der Bachgemeinde Wien am 25. Mai 2013 in der Minoritenkirche, Wien 2013, 9.   
  3. Ebd. und weiter: „(Mein Idol J.S. Bach möge mir verzeihen: Ich habe es immer etwas merkwürdig gefunden, wenn ein Solo-Bass „Quia fecit mihi MAGNA“ singt, wenn mir auch klar ist, dass dieser Irrealismus durch die Herkunft aus der Chormusik des 16. und 17. Jahrhunderts zu erklären ist, wobei bei der Auffächerung in solistische und chorische Partien Solo-Tenöre und Solo-Bässe eben unvermeidlich waren).“