Vermittlung Magazin

„De hime fia uns weana“

Eine Annäherung an Friedrich Cerhas „wienerische“ Kompositionen

ESSAY
Simon Haasis

geb. 1985 in Balingen. Lebt, studiert und arbeitet in Wien. 

http://homepage.univie.ac.at/simon.haasis/

 

Dem Jubilar zum 85ten,

vom „Ehren-Ferdl“ an den „Ferdl“

und ganz besonders für Yvonne:

„Get well soon!“

 

I Prolog auf dem Theater

 

Gleich zu Anfang1 darf ich eine Warnung an die LeserInnen aussprechen: Der vorliegende Essay hat zweifellos etwas Anekdotisches, ja manchmal sogar Plauderhaftes an sich. Dieser Umstand lässt sich nur bedingt auf eine Absicht von meiner Seite zurückführen, sondern ergibt sich aus der Sache selbst. Dieses Faktum beginnt bereits, wie ich gleich zeigen werde, bei den Werken Friedrich Cerhas, die ich hier besprechen werde, bei den Umständen ihrer Uraufführung und ganz zuletzt auch beim Ereignis, welches mich zu diesem Essay angeregt hat. Bei Letzterem erlaube ich mir zu beginnen, was einer Umkehrung der historischen Reihung bedarf. Ich beginne also am Ende.

 

Am 25. Oktober 2008 konnte das Publikum des Konzerts im Großen Saal des Wiener Konzerthauses einschließlich meiner Person ein in seiner Form wohl außerordentliches Spektakel erleben, welches von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von HK Gruber, unterstützt durch die SchülerInnen der Volksschule Kunterbunt, bestritten worden ist. Durchaus war das Programm dieses leider zu seltenen Ereignisses mit einem freizügig lachenden Konzertpublikum als illuster zu bezeichnen. Einer Teilaufführung der ursonate (1922-1932) folgte George Antheils A Jazz Symphony (1923-1955), gefolgt von Igor Strawinskis Konzert für Violine und Orchester D-Dur (1931), HK Grubers Frankenstein!! (1976-1977) – in kongenialer Ausführung durch den Dirigenten selbst (bemerkenswert die Philharmoniker mit Kinderinstrumenten) – und wurden letztlich abgerundet durch Leonard Bernsteins Prélude, Fugue and Riffs für Soloklarinette und Ensemble (1949).2 Im Zentrum des ersten Konzertteiles erfolgte eine Teiluraufführung, die uns hier besonders interessieren muss. Unter Anwesenheit des Komponisten Cerha wurden fünf Stücke aus dem Wiener Kaleidoskop für Orchester (2006)3 zu Gehör gebracht, eine Orchestersuite, die am 19. Oktober 2010 vom BBC Philharmonic Orchestra unter HK Gruber in Manchester zur Gänze zu hören sein sollte.

 

Diese Suite geht, nach Selbstauskunft Cerhas auf der Website der Universaledition4, auf eine Idee des Verlages zurück, der die Bitte geäußert hatte, einen kleinen Zyklus von Instrumentalnummern aus einem Komplex von zwei Werken zusammenzustellen, die in den 80er Jahren entstanden waren und zusammen mit drei weiteren Werken als die „Wienerischen Kompositionen“ des Komponisten bezeichnet werden können.5 Gemeint sind die beiden Keintaten für mittlere Stimme (Chansonnier) und Instrumente nach Gedichten und Wiener Sprüchen von Ernst Kein (1.: 1980/1982; 2.: 1983/1985).6 In allerdings erweiterter Instrumentation – hierauf werde ich gleich nochmals zurückkommen - werden elf Sätze, um genau zu sein neun ursprüngliche Zwischenspiele (Marsch, Kleine Pizzikato-Polka, Marsch, Galopp, Alter Plattenmarsch, Valse sentimentale, Polka, Quadrille, Potpourri) und zwei Lieder (Bearbeitungen der „kulinarischen“ Lieder der 1. Keintate: Da himme fia uns weana und Waun i a baafleisch iis) präsentiert.

Stereotyp für den gesamten „Stil“ des, wie ich ihn nennen möchte, „Wiener Zyklus“ ist der das Kaleidoskop beschließende Potpourri7 aus der 2. Keintate. In ihm erfüllt sich das böse Wort des Kritikers des Allgemeinen musikalischen Anzeigers Ignaz Castellis, der eine unterhaltsame Themenreihung dieser Art als „ein stinkender Topf mit verfaulten Ingredienzien“8 bezeichnet hatte. Gewissermaßen begegnen sich hier Cerha, Johann Strauß und Jacques Offenbach vereint unter dem Mantel der „Wiener Traditionalismen“. Doch, denn bis hierher könnte man ja das Schreckgespenst des negativ bewerteten Eklektizismus vermuten – von diesem bin ich mir aber gar nicht sicher, ob es ihn wirklich geben kann ­–, sie treffen sich unter einer scharadenhaften Maskierung. Statt es vergnüglich aneinanderzureihen, um den HörerInnen eben bestimmte Motive alla carte zu servieren, damit er sich an ihnen zu delektieren vermag, verfremdet Cerha mit Hilfe der Instrumentation und unter Nutzung bestimmter Spieltechniken das verwendete hehre Material. Ein wenig Tritsch-Tratsch-Polka, eine Prise Donner und Blitz (Zitate im Xylophon, Takte 47-53; 64-69 und in der großen Trommel, Takte 66 und 69) und zu guter Letzt der allseits beliebte Can-Can kommen sich hier erstaunlich nahe. Nichts Besonderes möchte man meinen, denn solcher Parodien gibt es genug, aber ein näherer Blick und besser noch ein genaues Hinhören offenbaren Stilbrüche noch und nöcher, die nicht zufällig geschehen können. Besonders gut lässt sich dies am Einsatz der Hörner erkennen. Sonst übernehmen sie beim Wiener Johann Strauß ebenso wie beim eigentlich absoluten Unwiener Jacques Offenbach, dessen Werke überhaupt nichts mit der Wiener Operettentradition zu tun haben, sondern eine eigene Gattung darstellen, die Rolle der Nachschlaginstrumente. Dabei gibt der Bass, meist alle Bassinstrumente, die gerade zur Verfügung stehen, die schweren bzw. schwereren Taktschläge an, während die „Nachschläger“ jeweils im Abstand einer Achtel-Note begleiten; das oft gerügte „Humbta-Humbta“ kommt zu Stande. Anders in Cerhas Potpourri: sieht man einmal von wenigen Takten ab (hier: Takte 14-19), so übernehmen die Hörner, wenn nicht die Rolle des Melodieinstruments, so doch die des impertinenten Störers. Gerade letztere Aufgabe ist für den „Stil“ des Wiener Zyklus prägend. Wenn der offenbachsche Can-Can nochmals kurz vor Schluss zurückkehrt, dann bringen Fagott und 2. Horn eben ein solches Störmoment ins Spiel (Takte 98-113). Obwohl harmonisch korrekt gesetzt, stört der vorgetragene Kontrapunkt das gewohnte Hörverhalten und trübt den Satz maßgeblich. Auch der Gigantismus der Wiener Moderne, ich komme hierauf nochmals zurück, deutet sich an, nämlich dort wo eine Piccoloflöte trotz der kleineren Besetzung Einsatz findet. Anders, wenn auch mit demselben Ziel, spielt Cerha dieses Spiel mit Formen im Galopp. Der Witz liegt aber hier im aus-dem-Takt-tanzen des gesamten Orchesters mit Einschüben im 5/8-Takt. Doch bis hierher ist nun einmal genug zur Konzertsuite gesagt. Ich kehre zu den Anfangsgründen zurück und frage nach der Herkunft, die sich ebenfalls so anekdotisch anhört wie das bisher Dargebrachte.                   

 

 

II Der Teleologie entgegen: Im Vorwärts zurück zum neuen Stil

 

„Neuere Stücke Cerhas aus den achtziger Jahren habe ich dann wieder besser verstanden. Das waren die beiden hintergründig-wienerischen Vokal- und Instrumentalkompositionen Keintate I + II und Eine Art Chansons, und dann Cerhas Meisterwerk von höchstem Rang: das Zweite Streichquartett, das übrigens auf seiner (wieder unabhängig von mir erfolgten) Auseinandersetzung mit außereuropäischer Musik beruht. Diese drei Werke, die ich in Cerhas Oeuvre am meisten schätzte, sind wieder ganz frei von expressionistischen Spuren und auch von postmoderner Attitüde. Die Kauzigkeit der Keintaten und der eigenartige schillernde Wiener Humor der Chansons – man muß sie in Heinz Karl Grubers einzigartiger Interpretation hören! – sind von großer Originalität und Treffsicherheit. Wenn Strawinsky in Ottakring und nicht in St. Petersburg aufgewachsen wäre, hätte er Ähnliches komponiert – vielleicht. Nun ist aber Cerha nicht Strawinsky, doch die Trockenheit und der extrem melancholische Humor beider Zyklen haben einen Strawinsky-artigen Beigeschmack.“9

 

Beinahe und mit allem notwendigen Respekt fühlt man sich beim Lesen dieser Laudatio György Ligetis an Friedrich Cerha zum siebzigsten Geburtstag an den Freudenausruf Soma Morgensterns in Bezug auf die Mitteilung Alban Bergs erinnert, er habe für Lulu eine richtige Koloraturarie komponiert.10 Ohne Emphase kann man Ligeti dabei durchaus  Recht geben. Weniger was die Verständlichkeit oder Fasslichkeit anbelangt – hier möchte und vermag ich nicht zu urteilen –, sondern wenn es darum geht, einen bestimmten Stilwandel bei Cerha festzustellen. Auch Hartmut Krones hat darauf verwiesen: „Daß viele Zuhörer im Juni 1983 [bei der Uraufführung der 1. Keintate, S.H.] verblüfft waren, ist mittlerweile bekannt. Aber Friedrich Cerha, der ja seit seinen Exercises (1962-67) wieder an der Tradition orientierte musiksprachliche Elemente in seine Partituren aufgenommen hatte […], war lediglich einen Schritt weitergegangen. Doch auch dieser Schritt war absehbar gewesen, seitdem sich der Komponist etwa in seinem Curriculum für 13 Bläser (1971-1972) wieder melodischer Linien, eines akkordischen Untergrunds und deutlicher Reprisenbildung bedient und zusätzlich sogar das Kunstmittel des Zitats nicht verschmäht hatte, oder seit er sich knapp danach in seinem Baal (1974-1980) intensivster gesanglicher Linienführung hinzugeben wagte. So hatte er einen (chronologischen) Schritt vor die Wiener Schule und auch vor den im Doppelkonzert beschworenen Erik Satie gesetzt: einen Schritt mitten hinein ins 19. Jahrhundert.“11

 

Mitten hinein ins 19. Jahrhundert scheint mir dabei doch etwas zu pathoshaltig zu sein, wenn diese Anmerkung auch der Richtigkeit entspricht. Ich neige hier dazu, zu relativieren und würde sagen: Mitten hinein in einen Teilbereich der Wiener Musikkultur des 19. Jahrhunderts, wie sie mit vielleicht unangemessenerer Emphase in einer Publikation der AKM beschrieben wird: „Mit einem Erstlingswerk in der Musikstadt Wien aufgeführt zu werden ist für einen Operettenkomponisten einfach. In Wien zu bestehen bedeutet den großen Erfolg, denn das Damoklesschwert des Mißerfolgs schwebt in Wien besonders drohend. Das Wiener Publikum ist verwöhnt und es hat eine starke Beziehung zu den musikalischen Darbietungen. Das kommt nicht zuletzt durch die große Tradition der Wiener Volksmusik. Sie geht zurück bis auf die Sagenfigur des „Lieben Augustin“ und gipfelt im 19. Jahrhundert in der exzellenten Spielkultur der Gebrüder Schrammel. Zwei Violinen, eine Kontragitarre und eine G-Klarinette, das sogenannte „picksüaße Hölzl“ – schon bald ersetzt durch die Knopfharmonika, sind die Standardbesetzung eines klassischen Schrammel Quartetts. Viele erstklassige Ensembles standen zu Beginn unseres Jahrhunderts zur Begleitung von Wienerlied-Sängern und -Sängerinnen zur Verfügung. Und mit dem Heurigenlokal hat man in Wien zu dieser Zeit eine Einrichtung, die keine andere Stadt der Welt besitzt: eine Pflegestädte echter Volkskunst. Erst später kommt der „Heurige“ – eine Bezeichnung, die gleichermaßen für die Lokalität und für den darin verabreichten Wein gilt – zu einem Ort herunter, wo man grölt, schunkelt und sich volllaufen läßt.“12

 

Wenn hier auch mit dem großen Pinsel und bunten Farben gemalt wird, so wird dennoch auf Momente rekurriert, die, wie Cerha anlässlich der Uraufführung der 1. Keintate hervorgehoben hat, auch für ihn von Bedeutung sind.13 Besonders wichtig schien es ihm, in seiner Ansprache auf den Wert der vorstädtischen Heimat14 abzuheben. Gerade für die Uraufführung der 1. Keintate war die zwanglose, familiäre Atmosphäre der Vorstädte im Unterschied zur Halbdunkelwelt der innerstädtischen Konzertsäle wichtig. In dieser Rede findet sich auch ein Subtext in Bezug auf den Titel des Werkes. Den LeserInnen wird sicher nicht entgangen sein, dass hier eine Mutation der „Kantate“ zur „Keintate“ mit Rekurs auf den Textdichter Ernst Kein (1928-1985) vorliegt.15 Doch hierin zeigt sich auch eine weitere – man kann sagen – „typisch wienerische Assoziation“16 terminologischer Art. „Kein Tate“ deutet nämlich auf das Fehlen eines väterlichen Erzeugers hin, da der Tate, jiddisch für Vater, eben fehlt.     

 

 

III „Closer look“ – Einige „Augenblicke“ zur 1. Keintate

 

Einen eingehenderen Blick auf die Machart wenigstens einer der beiden Keintaten möchte ich hier noch geben. Nachvollziehbar ist dabei, dass eine Gesamtschau der 1. Keintate17 nicht möglich ist und auch unbefriedigend wäre. Der Umfang von 49 Einzelstücken und einer Spieldauer von etwa 80 Minuten verhindert dies. Ich beschränke mich daher darauf, einige „besondere“ Momente herauszuarbeiten.

 

Beide Keintaten heben auf dieselbe Weise mit einem Prolog von Chansonnier und gesamtem „Orchester“ an. Vielleicht noch kurz ein Wort zu den laut Partitur vorgeschriebenen Instrumenten, was ich oben schon angekündigt hatte. Grundstock der instrumentalen Besetzung bildet eine Schramml mit zwei Klarinetten, Akkordeon und zwei Violinen, diese ist erweitert um zwei Hörner, Schlagzeug, Viola, Violoncello und Kontrabass, sowie entsprechende Wechselinstrumente, wie eine Es- und eine Bassklarinette. Wenn man so möchte, und ich erlaube mir diese Interpretation, dann könnte man auch hier von einem Wienbezug, quasi „kulturenüberschreitend“ sprechen, da hier „Volksmusik“ mit dem „Gigantismus“ der Wiener Moderne gepaart auftritt. Die HörerInnen treffen Schrammeln im Mahler’schen Sinne an.     

Der Prolog selbst kann nun irgendwo zwischen Praterstand, Zirkuszelten und Panoptikum eingereiht werden. Er ruft den „Schaulustigen“ (auf diesen Aspekt komme ich später noch einmal zu sprechen) mit den Worten „Heans inas au[,] de margaredna und fümfhausa[,] de fluridsduafa und de simaringa[,] de weana mid an wuat[,] heans inas uandelch a[,] unds wiad ina gauns woam ums heaz[,] oda se griang de gansl haut [-] ans fon de zwaa“18 zur „Beschauung“ auf. Gewisse Ähnlichkeit zum gewissermaßen mit Cerhas Biographie eng verbundenen Prolog zur Berg-Oper Lulu ist durchaus vorhanden. Auch hier wird dem Hörer ein „ernstes tolles Tier“ vorgesetzt werden; nur eben ohne obligatorischen Ruf an „Ajust“. Bemerkenswert ist sicherlich auch der Einsatz der Hörner, welche gemeinsam mit dem Schlagzeug dieses musikalische Kuriositätenkabinett eröffnen. Dieser Eröffnung ist auch die Vorstellung einer Tonfolge mitgegeben, die die gesamten 49 Lieder rahmenartig zusammenhält. Die Intervallfolge des Grundmotivs des Hornthemas vom Anfang – große Terz, Halbton, Tritonus, Halbton, Halbton, verminderte Quint – prägt in unzähligen Varianten den gesamten Zyklus. Das Rückkoppelungsprinzip der Spiegel-Reihe deutet sich hier wieder an.19    

 

Zunächst wende ich mich nun den ersten drei Liedern zu (Nr. 2-4). Innerhalb ihrer lebensnahen Themen steigen wir als HörerInnen in aufsteigender Reihenfolge von der Hölle durch die Welt zum Himmel. Es geht um Post („bost“), Kaiser („keisa“) und Himmel („hime“).

 

Dass die österreichische Post manchmal zu Lieferschwierigkeiten neigt – andere staatliche Postzulieferungsbetriebe tun sich hierbei aber ebenfalls schwer – ist nicht erst seit Karl Kraus bekannt. In diesem Lied begegnen wir dem Problem von der praktischen Seite. Unser „Wiener“ kommt schwer ins Denken, da er vermuten muss, dass bei der Post etwas nicht in Ordnung sei, da er schon länger keine Liebesbriefe mehr bekommen habe. Diese tragische Situation wird in einer für den ganzen Zyklus beinahe nicht totzukriegenden 3/4-Takt-Stimmung illustriert, die in den Begleitstimmen dadurch gebrochen wird, dass sie die „Walzerseeligkeit“ durch gewissermaßen „falsche“ Terz- und Sextparallelen stören. Der besondere Witz der Szene liegt in der Arbeit mit Dissonanzen, die eben nicht lange genug währen, um als solche wahrgenommen zu werden. Hier sei auf den Takt 9 verwiesen – enthält die Feststellung, dass auf der Post etwas nicht stimmen kann –, wo ein solches Spiel mit dem Akkord f-a-c-d getrieben wird. Die Provenienz der Wiener Schule in diesen Stücken Cerhas ist hier spürbar.20 Ein plötzlicher Themenwechsel bringt nun den Kaiser aufs Tapet, oder vielmehr unser „Wiener“ assoziiert, was wäre, wenn er der Kaiser gewesen wäre. Klar: Er hätte alle Mädchen – sie wissen schon welche, nämlich die auf der Kärtnerstraße, jene auf dem Ring und die auf der Breitenstraße21 – durchprobiert (so von Kein formuliert) und hätte dann gesagt: „Es hat mich sehr gefreut.“ Beim ersten Auftritt des Kaisers erhebt sich die Stimme des Sängers zum d, ital. Re, also zum Herrschersymbol schlechthin.22 Ganz unherrscherhaft ist der Schluss des Liedes. Hartmut Krones vermeint hier, durch dissonante Eintrübungen erkennen zu können, dass das Glück unseres „Kaisers“ getrübt zu sein scheint – ein F-Dur-Schluss wird verhindert. Ich möchte aber meinen, dass der Schluss auf etwas anderes abzielt, was sich oft in diesem Zyklus ereignet, nämlich auf ein Moment der Rückkehr aus einer imaginierten Situation; es lüftet sich quasi wieder der Schleier. Im vierten Lied De himme fia uns weana kommen nun wieder die bereits in Bezug auf den Potpourri festgestellten melodischen Topoi der „Kitsch-Folkore“ zum tragen. Auch finden sich in diesem zahlreiche Zitate von extremer Kürze, die aber dennoch als solche erkannt oder zumindest erahnt werden können. So scheint die Melodik der Klarinetten in Takt 14-15 auf Im Prater blühn wieder die Bäume zu referieren und in den Takten 34-35 begegnen sich sogar O du lieber Augustin und O du mein Österreich, während der Chansonnier im Genuss seiner „Schnitzln“ mit „guaknsalod“ und „bia“ schwelgt.

Das heitere Spiel mit Idiomatik möchte ich nun noch an einer losen Folge weiterer Lieder – der Raum, der mir verbleibt, rechtfertigt dies – herausarbeiten. In der Nr. 10 An lipizana mecht i gauns fia mi alaa bringt Kitschfolklore und Kitschindustrie à la Innere Stadt zusammen. Volksmusikidiome untermalen den paradoxen Wunsch des lyrischen Ich nach einem Lipizzaner, jenen spanischen Pferden, die der Hofreitschule ihren Namen geben (spanische Hofreitschule); diesen möchte er aber ausgestopft und wenn es das nicht gebe, dann eben einen Sängerknaben. Nach einem ähnlichen Prinzip der Assoziation funktioniert auch Nr. 28 Waun i a baafleisch iis und das „Trinklied“ Nr. 46 A fiatl und no a fiatl, wo ein Walzer rauschmäßig zersetzt wird. Hier ist auch das Spiel mit Gesangstechniken bemerkenswert, worauf ich aber leider nicht weiter eingehen kann, da hier auch eine Aufführungsanalyse von Nöten wäre. Es geht in diesem Zyklus aber auch ganz anders. Trotz, wie bereits ausgeführt, Idiomatik ist beispielsweise Lied 47 Fria hob i glaubt – eine Erscheinung des Todes – als streng kontrapunktischer Satz gebaut, der sich zu seinem Ende hin aufzulösen scheint.                 

 

 

IV.

„Und nie wieder Wienerisches“23 – ein Ausblick

 

Die oben wiedergegebene Anmerkung Cerhas am Ende seiner Partitur zur 2. Keintate bestätigt wieder einmal die von Carl Dahlhaus geäußerte Feststellung zum Recht des Komponisten an der Eigeninterpretation.24 Ohne nun so weit gehen zu wollen zu sagen, dass der Komponist nichts wüsste, so hat er die Beurteilung, wie auch die Ausführung – ich habe das hier angedeutet – anderen zu überlassen. Bevor ich nun meine Interpretation als Ausblick abschließe, wage ich noch eine Anmerkung zur Uraufführung der 1. Keintate. Die Uraufführung fand am 20. Juni 1983 statt, was bereits Tage vorher auf einem Plakat zu lesen war, das mit folgendem Wortlaut anhob: „Können Sie wienerisch? Kennen Sie die Wiener Seele? Wenn nicht, ist Ihnen vielleicht zu gratulieren.“ Danach folgte die Einladung ins Metropol.

 

Sollte also alles aus pädagogischer Absicht geschehen? Das anzunehmen mag wohl falsch sein, aber der Nutzen dieses Werkes, wie auch der 2. Keintate und des Wiener Kaleidoskop scheint mir doch zu einem gewissen Teil zumindest hierin befestigt zu sein. Hier liegt eine heitere Kampfansage, wie aber auch zu gleichen Teilen ein Selbsterkenntnisprozess vor, den ich als Wahlwiener den „echten“ WienerInnen einmal unterstellen möchte. In diesem Aspekt liegt vielleicht die Schwierigkeit der „Wienerischen Kompositionen“, der Grund, warum ihnen international nur wenig Ruhm zuteil werden kann: sie sind zu wienerisch. Ihnen wiederfährt – und das ist aus aufführungstechnischer Perspektive problematisch – ein ähnliches Schicksal wie auch der Oper Kehraus um St. Stephan von Ernst Krenek. Beide, der „Wiener Zyklus“, wie auch Kreneks Werk brauchen gewissermaßen Wiener Luft. Werden sie herausgerissen, bedarf es einiger Arbeit, sie einem Publikum zu vermitteln. Falsche Bilder könnten aufkommen – wie zum Beispiel im Verhältnis zum Begriff „Heimat“, der Feindlichkeit des Wieners gegenüber sich selbst, wie aber auch der Natur (man denke an das Lied zum Wetter) oder allem anderen Getier (Tauben!!!). Doch ich meine, dass dies Unsinn ist, denn die Botschaft dieser Gedichte von Ernst Kein, wie aber auch der Vertonungen von Cerha ist eine: sind wir nicht alle ein bisschen Wiener? (Vielleicht vergleichbar dem deutschen Michel?) Und diese Botschaft kann global gelesen werden, was ich als eine Aufforderung verstanden haben möchte, diesem Teil des Oevres Friedrich Cerhas auch einmal neuerliche Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.

 

 

 



  1. Meinen herzlichen Dank habe ich zunächst an die Herren Christoph Hümmer und Alexander Meschik (beide Wien) für die aufmerksame Lektüre meines Manuskripts auszusprechen. Dank gilt ebenso der Universaledition (im folgenden UE) für die kostenfreie, leihweise Überlassung des Notenmaterials zu den beiden Keintaten und dem Wiener Kaleidoskop für Orchester
  2. Vgl. die Programmdatenbank des Wiener Konzerthauses, http://konzerthaus.at/archiv/datenbanksuche/, 19.09.2011. 
  3. Friedrich Cerha: Wiener Kaleidoskop für Orchester (2006), Wien 2011 (Unverkäufliches Leihmaterial) [fortan: Wiener Kaleidoskop].
  4. Vgl. Friedrich Cerha: Wiener Kaleidoskop für Orchester. Werkeinführung, in: http://www.universaledition.com/Friedrich-Cerha/komponisten-und-werke/komponist/130/werk/13193/werk_einfuehrung, 19.09.2011. 
  5. Vgl. Harmut Krones: »Wienerische« Kompositionen von Friedrich Cerha, in: Lukas Haselböck (Hg.), Friedrich Cerha. Analysen – Essays – Reflexionen (in: Rombach Wissenschaften. Reihe Voces. Herausgegeben von Christian Berger und Christoph Wolff, Bd. 8), Freiburg im Breisgau [u.a.] 2006, S. 187-213, hier: 206-208. Bei den weiteren Kompositionen handelt es sich um In memoriam Ernst Kein (1985, UA: 18. Juni 1996), Eine Art Chansons (1985–87) und Eine letzte Art Chansons (1989), die ich in meinen weiteren Ausführungen aus dramaturgischen, wie aus Raumgründen unberücksichtigt lassen muss. 
  6. Friedrich Cerha: 1. Keintate für mittlere Stimme (Chansonnier) und Instrumente nach Gedichten und Wiener Sprüchen von Ernst Kein (1980/1982), Wien 1996 (unverkäufliches Leihmaterial) [fortan: 1. Keintate] und Friedrich Cerha: 1. Keintate für mittlere Stimme (Chansonnier) und Instrumente nach Gedichten und Wiener Sprüchen von Ernst Kein (1983/1988), Wien 1996 (unverkäuflches Leihmaterial) [fortan: 2. Keintate]. Wie ich noch zeigen werde, handelt es sich im Falle des Titels Keintate um keinen Schreibfehler!   
  7. Ein Hörbeispiel wird von der UE auf Ihrer Website angeboten:  http://www.universaledition.com/Wiener-Kaleidoskop-fuer-Orchester-Friedrich-Cerha/komponisten-und-werke/komponist/130/werk/13193, 01.10.2011. 
  8. Allgemeiner musikalischer Anzeiger 5 (1833), Nr. 29, S. 113. 
  9. György Ligeti: Fritz Cerha, herzlichst, zum siebzigsten Geburtstag, in: Ders., Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Monika Lichtenfeld (in: Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10, 1), Mainz [u.a.] 2007, S. 473-478, hier: S. 477.
  10. Vgl. Soma Morgenstern: Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte, Berlin 1999, S. 137. Die Authentizität des dennoch lesenswerten Buches Soma Morgensterns ist zum Teil zu bezweifeln, worauf ich nun nicht näher eingehen kann. Genügen mag vielleicht die Selbstauskunft des Verfassers: „Dies ist kein Buch der Erinnerungen an Alban Berg. Es ist eine Reihe von lose zusammenhängenden Kapitel, meiner Autobiographie entnommen, in denen von Alban Berg die Rede ist.“ vgl. ebd., S. 7. 
  11. Krones, a.a.O., S. 188. 
  12. Hans Eidherr [u.a.] (Red.): Geschichte der Unterhaltungsmusik in Österreich. Folge 1: 1900 bis 1930, Wien a.J., S. 4-5. Diese Ausführungen finden sich unter dem Titel: Die Schrammeln und die Wiener Volksmusik.
  13. Vgl. die von Cerha improvisierte Ansprache vom 20. Juni 1983, die zwischenzeitlich in der Schriftensammlung Cerhas abgedruckt ist, Friedrich Cerha: Stegreif-Rede zur Uraufführung der „I. Keintate“ im Metropol, in: Ders., Schriften. Ein Netzwerk (in: Komponisten unserer Zeit, Band 28), Wien 2001, S. 94-95.
  14. Weder ich, noch wie ich meine auch Cerha, wollen diesen Begriff der „Heimat“ im politischen Negativ verstanden wissen, wie er von bestimmten politischen Parteien im aktuell zurückliegenden Wahlkampf missbraucht wurde und bis heute missbraucht wird. Ich werde am Ende meiner Ausführungen hierauf nochmals zurückkommen müssen.
  15. Vgl. die Informationen des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, wo Keins Nachlass aufbewahrt wird, http://www.onb.ac.at/sammlungen/litarchiv/bestaende_det.php?id=kein, 01.10.2011.
  16. Krones, a.a.O., 189.
  17. Die Wahl fällt vor allem deshalb auf die 1. Keintate, weil dadurch den LeserInnen ermöglicht wird, meine Ausführungen nachzuvollziehen, da zumindest diese auf Compact Disc in einem Mitschnitt mit H.K. Gruber und Friedrich Cerha erschienen ist.
  18. 1. Keintate, S. 1-4. Übersetzung (frei nach Krones, a.a.O., S. 188): „Hören Sie sich an die Margaretner und Fünfhauser, die Floridsdorfer und Simmeringer, die Wiener um es mit einem Wort zu sagen, hören Sie sich sie ordentlich an, und es wird Ihnen ganz warm ums Herz, oder Sie bekommen eine Gänsehaut, eines von beiden.“
  19. Vgl. Krones, a.a.O., 189-191.
  20. Vgl. Krones, a.a.O., 192.
  21. Tonal ist dies auch hörbar. Die „Madln“ werden während eines neapolitanischen Ges-Dur-Dreiklangs eingeführt, vgl. ebd.
  22. Vgl. ebd.
  23. 2. Keintate, S. 339 (eigenhändige Eintragung Cerhas am unteren Ende des Notenblattes unterhalb des Vollendungsdatums)
  24. Vgl. Carl Dahlhaus: Arnold Schönberg: Drittes Streichquartett, op. 30, in: Ders., 20. Jahrhundert. Historik – Ästhetik – Theorie – Oper. Arnold Schönberg. Herausgegeben von Hermann Danuser (in: Ders. Gesammelte Schriften in 10 Bde. Herausgegeben von Hermann Danuser, Bd. 8), Laaber 2005, S. 749.