Vermittlung Magazin

"Man nimmt überhaupt keine Rücksicht"

Zur Dialektik von Humanismus und Antihumanismus auf der Opernbühne Gottfried von Einems im Lichte der Nachkriegserfahrung

ESSAY
Simon Haasis

Simon Haasis, geb. 1985, ist Musikwissenschaftler und Kulturhistoriker, der in Wien lebt und arbeitet. Darüber hinaus ist er als Schriftsteller und Musiker tätig. 

http://homepage.univie.ac.at/simon.haasis/

Für Alexander Zehmisch, nachträglich

 

 

"Mit Würd’ und Hoheit angethan,

mit Schönheit, Stärk’ und Muth begabt,

Gen Himmel aufgerichtet, steht

 Der Mensch,

Ein Mann, und König der Natur."1

 

Gerüchte besagen, dass es eine Zeit gab, und die soll noch nicht einmal so lange her sein, da schmückten die Plakate der Salzburger Festspiele nicht nur illustre Namen von Sängerstars, die die immer und immerselben "alten Schinken" des Repertoires zwischen Mozart und Puccini, Verdi und Wagner auf und ab musizierten, sondern auch das Wort "Uraufführung" war beinahe jährlich darauf zu lesen.2 Und es waren nicht auserlesene Spezialisten der Neuen Musik, die diesen musikdramatischen Neuschöpfungen zur Geburt verhalfen, sondern jene Sängerinnen und Sänger, jene Regisseure und Bühnenbildner, die auch für den "Repertoirebetrieb" bei den Festspielen verantwortlich zeichneten. Unter ihnen befanden sich solche Sängerlegenden wie Maria Cebotari, Lisa della Casa, Max Lorenz, Paul Schöffler, Julius Patzak, Josef Witt und Herbert Alsen. Nach der Wiedereröffnung 1946 waren es von 1947 bis 1957 acht Uraufführungen, allein ihrem Ausmaß nach große Opern. Eine wahre Pionierleistung in einem sonst nicht nur mit Klassikern reich bestückten Spielplan. Mit Ausnahme der Jahre 1951 und 1956 erblickte stets, wenigstens erstmals in szenischem Gewand, eine Oper das Licht der Welt.3 Zwei Mal widerfuhr diese Ehre den Werken von Gottfried von Einem. Die musikalische Leitung lag dabei zum einen in den Händen von Ferenc Fricsay (Dantons Tod), zum anderen in denen Karl Böhms (Der Prozess4).5  

 

Um nun die bisher gemachten Ausführungen nicht als platte Gegenwartsklage selbst zu diskreditieren, erscheint es mir als notwendig zu erwähnen, dass die damaligen Nachkriegs-Festspiele in mehrfachem Sinne von einem pragmatischen Pioniergeist durchtränkt waren, der sich vom heutigen "society event"-schwangeren Zeitgeist deutlich unterscheidet. Die Festspiele sahen sich, ebenso wie jede andere Institution, dazu veranlasst, sich von den Flecken des Nazi-Regimes freiwaschen zu müssen (die Festspieljahre 1938 bis 1944 hatten schließlich deutliche Spuren hinterlassen), das Publikum wollte nicht nur Altgewohntes, mit dem es womöglich düstere Erinnerungen verband, sondern sehnte sich geradezu nach Neuem, und dies verhalf nicht zuletzt einer Generation junger Künstler zu ihrem Recht, was wohl auch dadurch begründet war, dass der ein oder andere ältere entweder nicht mehr oder noch nicht wieder zur Verfügung stand.   

 

Bei einem dieser jungen Musiker handelt es sich um den 1918 in Bern geborenen und in Schleswig-Holstein aufgewachsenen österreichischen "Componisten"6 Gottfried von Einem. Seine Erfahrungen unter dem nationalsozialistischen Regime waren zweischneidiger Natur. Er konnte sowohl von der einen oder anderen Annehmlichkeit profitieren, wiewohl er auch unter dieser Gewaltherrschaft zu leiden hatte.7 So sah er sich an der Seite Heinz Tietjens, dem sowohl als Regisseur wie auch Dirigenten tätigen Generalintendanten der Preußischen Staatstheater, in die ersten kulturellen Kreise des sogenannten Dritten Reiches gestellt. Nicht vergessen werden sollte auch sein durchaus enger, mehr als nur beruflicher Kontakt zum Bayreuther Wagner-Clan, das heißt seine Freundschaft zu Wolfgang und seine Beziehung zu Friedlind Wagner.8 Andererseits lernte Einem auch die Schwierigkeiten eines öffentlichen Künstlerlebens unter den braunen Machthabern kennen. Bereits seine Suche nach einem Kompositionslehrer macht dies deutlich. Paul Hindemith wurde noch vor Unterrichtsbeginn vom Hochschuldienst demissioniert, sein erster Berliner Lehrer, der Komponist und Kritiker Friedrich Walter, ihm durch den Einzug zum Militärdienst entzogen,9 und der Unterricht bei Boris Blacher gestaltete sich als schwierig durchführbar, da beide nicht zuletzt an der Grenze zur Legalität agierten. Blacher unterlag einem Lehr- und Aufführungsverbot und war darüber hinaus, was allerdings nicht der Grund für das erste war, nach der Nomenklatur der Machthaber "Volljude". Wie Einem selbst zu berichten wusste, hatte vor allem auch seine Mutter Baronin Gerta Louise an der Geheimhaltung dieses Aspekts großen Anteil.10 Auch ihre Verwobenheit ins politische Leben Berlins ist von zweideutigem Charakter. Doch selbst die Duzfreundschaft zu Hermann Göring konnte ihren Sohn und sie nicht vor Schwierigkeiten mit der Gestapo schützen.11                        

 

Doch nun war dies alles vorbei. Die Nachkriegszeit begann, die schlimmsten Schrecken waren überwunden, und nicht nur eine allgemeine Aufbaustimmung durchzog die Gesellschaft, auch neue musikalische Projekte warteten. Vor dem Hintergrund dieser individuellen und kollektiven künstlerischen Nachkriegserfahrung sollen im Rahmen dieses Aufsatzes nun die beiden in Salzburg uraufgeführten Opern sowie Der Besuch der alten Dame aus dem Jahr 1971, zu dem die ersteren in ein besonderes Näheverhältnis gestellt werden können, untersucht werden: unter dem Gesichtspunkt der Dialektik von Humanismus und Antihumanismus.       

 

1.

Wenn es darum geht, sich heute gegen die Gewaltrhetorik der Radikalismen jeden Lagers, ob von links oder rechts, zu verteidigen, so erweisen sich Humanismus und Humanität, trotz der erschütternden Kritik an ihnen, als Wellenbrecher im Ozean des Zeitgeistes. Wer über Humanismus spricht, muss sich eines Faktors bewusst sein. Ein Mensch, der humanistisch denkt, steht in seinem Denken stets auch vor bösen Fallstricken, ja er oder sie hat die symbolische Schlinge bereits um den Hals gelegt.

Wie das zu verstehen ist, lässt sich in Anlehnung an einen Essay des deutschen Philosophen Odo Marquard leicht veranschaulichen. In seinen 1984 in Salzburg als Vortrag präsentierten Gedanken zu einer "Apologie des Zufälligen"12 fordert er die anthropologische Anerkennung des Momentes der Zufälligkeit aus Perspektive einer Philosophie vom Menschen. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bietet eine These Hegels, zu welcher er sich antithetisch bewegen möchte. Sie lautet: "Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen."13 Wenn auch unter Schmerzen, so widerspricht Marquard dieser aus seiner Sicht widersinnigen These, indem er feststellt, dass es, würde man dieser Forderung gestreng folgen, notwendig wäre, sowohl die Philosophen aus der Philosophie als auch das Allzumenschliche aus dem Menschen zu entfernen. Die Folge wäre ein Verlust an Wirklichkeit.14 In diesem Zusammenhang steht ein Phänomen, das Marquard "das Programm der Absolutmachung des Menschen und seine moderne Zuspitzung"15 nennt. Dieses "Programm", dem aber Einhalt geboten werden kann, ist alt und mit Sicherheit eine der Grundgefährdungen eines jeden humanistischen Denkens, die diesem aber immanent sind. Wer solcher Programmatik folgt, neigt dazu, den Menschen absolut machen zu wollen. Aus dieser Haltung erwachsen auch die Kritikpunkte, die Jean-François Lyotard als "Lektionen" des Humanismus, als seine Besserwisserei, verurteilte und anprangerte,16 und das Urteil, welches Michel Foucault in einem Gespräch mit Gymnasiasten für die Zeitschrift Actuel geäußert hat.17 Auch wenn sich der französische Philosoph hier in Polemik etwas versteift, so hat er dahingehend Recht, dass Humanismen dazu neigen, uns nicht nur belehren zu wollen, sondern uns eben die von Marquard bezeichnete Absolutierung aufzuoktroyieren. So hatte sich der Humanismus des fünfzehnten Jahrhunderts in den Gedanken verliebt, dass die Auseinandersetzung mit "toten" Sprachen der Vergangenheit und die Lektüre deren literarischer Erzeugnisse den Menschen bessern könne, oder der der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts redete es sich tapfer ein, dass der Mensch durch die richtige Erziehung stets gut werden würde, und vergaß dabei, dass die Form von Erziehung, wie er sie propagierte, den Menschen zwar bessern aber auch entmenschlichen könnte.                           

Solcherlei Zwänge, wenn auch nicht auf diesem philosophischen Niveau, gehören seit den Gründertagen der Salzburger Festspiele zu deren wesentlichem Gedankengut. Wie auch der große Pazifist Romain Rolland, der als Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Nobelpreisträger des Jahres 1915 eine Autorität und Institution der gelebten Menschlichkeit darstellte,18 sah Hugo von Hofmannsthal vor allem im Bekenntnis zum Europagedanken eine Chance für das neue Österreich, seine Humanität, seine Weltoffenheit und Gastfreundschaft zu demonstrieren: "Das Salzburger Land ist das Herz vom Herzen Europas. Es liegt halbwegs zwischen der Schweiz und den slawischen Ländern, halbwegs zwischen dem nördlichen Deutschland und dem lombardischen Italien; es liegt in der Mitte zwischen Süd und Nord, zwischen Berg und Ebene, zwischen dem Heroischen und dem Idyllischen; es liegt als Bauwerk zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, dem Uralten und dem Neuzeitlichen, dem barocken Fürstlichen und dem lieblich ewig Bäuerlichen: Mozart ist der Ausdruck von alledem. Das mittlere Europa hat keinen schöneren Raum, und hier mußte Mozart geboren werden."19

 

In der Stadt, in der Gegensätze aufeinander treffen, das legt Hofmannsthal nahe, soll ein Kunstfest der Gemeinschaft stattfinden, das diese wiederum vereint. Dabei kann es aber nicht um irgendeinen „völkisch“ umwölkten, dümmlichen Gemeinschaftssinn gehen, sondern nur um einen, nämlich den, der alle Menschen, unabhängig von Partei- und Religionszugehörigkeit, Abstammung und sexuellen Vorlieben, vereint, den, der aus der Freude an den Künsten entsteht. Dass aber auch eine Auslegung in eine andere Richtung möglich ist, das haben die Jahre von 1938 bis 1944 mit aller Brutalität gezeigt.                                  

 

Oben war vom Salzburger Pioniergeist der Nachkriegszeit die Rede. Ein Aspekt zeichnet diesen im Besonderen aus. Es geht um jene Künstler, die als eine Art "Clique"20 im neuen Salzburg die Geschicke der Festspiele mit übernommen haben. Zu ihnen gehören der Regisseur Oskar Fritz Schuh, der Bühnenbildner Caspar Neher, und, im engsten Kreis, die Komponisten Gottfried von Einem, Werner Egk, Carl Orff und Rudolf Wagner-Régeny, sowie im weiteren Kreis auch Heimo Erbse, Rolf Liebermann oder Frank Martin. Bemerkenswert ist beim Blick auf ihre Werke dieser Zeit, dass sie alle, mit Ausnahme von Heimo Erbse und Frank Martin, eine Affinität zumindest zur Dramaturgie und/oder den Stoffen der klassischen griechischen Tragödie aufweisen. Egk mit Circe (1948 uraufgeführt in Berlin) und der auf einem fabelartigen Stoff basierenden Irischen Legende (Salzburg 1955), Liebermann mit seiner Penelope (Salzburg, 1954), Orff mit Antigonae (Salzburg, 1949), Oedipus der Tyrann (Stuttgart, 1959) und Prometheus (Stuttgart, 1968) und Wagner-Régeny mit Prometheus (Kassel, 1959). Vor dem Hintergrund dieser Affinität wird stets die Dialektik von Humanismus und Antihumanismus, von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit sowohl im Libretto als auch in der Musik diskutiert.                       

2.               

Πολλ? τ? δειν? κ' ο?δ?ν ?νθρ?που δειν?τερον π?λει.21

 

Die erschütternde Synthese des ersten Chores aus der sophokles’schen Antigone ist (leider) nach wie vor gültig, und wohl nichts hätte sie unglücklicher bestätigen können als die großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser negative anthropokulturelle Befund22 hilft – zumindest als Teilaspekt – dabei, eine Erklärung für die anhaltende Aktualität der attischen Tragödie zu finden. Bei allem Identifikationspotential, das den Stücken und Stoffen des Aischylos, des Sokrates oder des Euripides bis heute, nicht zuletzt auch als Vorlagen und Vorbilder für Dichter aller Zeiten,23 innewohnt, sollte nie vergessen werden, dass in dieser Rezeptionsgeschichte,24 als Erfolgsgeschichte, ein kreatives Missverständnis als "dunkle Energie" wirkt. So hat der Klassizismus, welcher nationalen Couleurs auch immer, aus den eigentlich kultisch-rituellen "Spielen", die als große Dramen, durch den "Geiste zielbewußter Staatspolitik"25 gesteigert, erwachsen sind, Schaustücke der edlen Einfalt und stillen Größe im Sinne Winckelmanns gemacht. Die Pointierung der Begriffe "tragische Schuld und tragische Verstrickung, des Begriff[es] des tragischen Schicksals und der Begriff des Menschlichen"26 hatten dies mit sich gebracht. Gänzlich anders hatte das von Sigmund Freud belehrte fin de siécle die naturalistisch-psychologischen Deutungsmöglichkeiten, die den Tragödien innewohnen, herausgearbeitet.27 Alle diese Versuche nahmen sich aber nicht nur ein Vorbild an den antiken Theaterstücken selbst, sondern auch an deren wichtigstem "fast" zeitgenössischen Interpreten: Aristoteles. In seiner Poetik befestigte er die wesentlichste und zugleich folgenschwerste Definition der Tragödie im Sinne des Dramas.28 Neben deren Wesen und Teilen bestimmt und bewertet er dabei auch ihre Wirkung, allerdings ohne diese lange zu begründen: „Die Tragödie ist Nachahmung [μ?μησις] einer […] Handlung […] – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer [φ?βος] und Schaudern [?λεος] hervorruft und hierdurch eine Reinigung [κ?θαρσις]29 von derartigen Erregungszuständen bewirkt."30

 

Auch diese Bestimmung, die aber nicht als apodiktische Definition aufgefasst werden sollte, sondern als philosophischer Deutungsversuch, wurde auch in den Strudel des bereits erwähnten produktiven Missverständnisses hineingezogen. Legendär und heute genauso umstritten ist die Übertragung Gotthold Ephraim Lessings im 74. und 78. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie.31 Für ihn löst die Tragödie "Furcht" und "Mitleid" aus, was auf eine Besserung und Läuterung des Zuschauers hin abziele.32 Das ist vom philologischen Befund her wohlweislich Unsinn, aber, wie schon gesagt, leidenschaftlich rezipierter Unsinn.                                         

Was für die Tragödien und deren theoretische Erfassung gilt, gilt auch für das Menschlichkeits- oder Humanitätsideal (oder ganz allgemein für den Humanismus),33 welches sich auf das rückbeziehen lässt, „was wir im historisch-mythischen Aspekt »die« Griechen und »die« Antike nennen,    und was uns in griechisch-antiken Schriftwerken der Dichtung und des Denkens sowie in Denkmälern der Kunst noch jederzeit verfügbar ist."34

 

Im Grunde drehen sich die Gedanken bei aller trennenden kulturell-historischen Differenz zwischen diesem antiken Humanismus35 und den im Anschluss an ihn gebildeten Ideen um den Gehalt und die Gestalt des "Menschlichen" in seinen verschiedenen Ausprägungen. Dieses "Menschliche" wird von zwei anthropologischen Aspekten getragen. Der eine ließe sich als anthropologisches Paradoxon bezeichnen, und der andere als eine rhetorische Denkfigur. Das Paradoxon erwächst aus dem Umstand einer dialektischen Spannung zwischen zwei Extremen: auf der einen Seite steht die Feststellung, dass alle Menschen gleich sind, auf der anderen, dass jeder Mensch als Individuum begriffen werden muss. Mit ihm korrespondiert die rhetorische Denkfigur des Menschlichen, die sich ebenfalls in einem Spannungszustand einer Alternative "austobt": wenn die Rede auf den Menschen fällt, dann ist er entweder ein armes oder reiches Wesen.36 Er leidet an der Welt oder er dominiert sie, er scheint nichts umsonst zu tun, hat sich aber die Kunst um ihrer selbst willen und aus einem Überfluss an Zeit geschaffen. Aus dieser Situation heraus bestimmt sich das "Menschliche" auf verschiedene Weisen. Wenn der Mensch stirbt, so begegnet er dem "Menschlichen", wenn er seine Schwächen zeigt, dann ist er "menschlich", und er bindet sich mit Hilfe der gleichen Rechte an ein "Leitbild von höchster Observanz".37 Bedenkt man diese antithetischen Situationen, so wird klar, worin der Reiz der Dialektik zwischen Humanismus und Antihumanismus anhand der Poetik und Dramaturgie der antiken Tragödie liegt. Es geht um die Darstellung der Abgründe, wie aber auch der Vorzüge des Menschen in einem letztlich nur vordergründig antithetischen Verhältnis, denn der Humanismus ist dem  Antihumanismus ebenso inhärent, wie vice versa, und die Tragödie antiker Provenienz vermag dies zu versinnlichen.      

 

3.

"Man nimmt überhaupt keine Rücksicht"

(Prozess-Klav., 92, Viertes Bild)38

 

 

Josef K.: "Ich bin aber nicht schuldig, es ist ein Irrtum.

Wie kann ein Mensch überhaupt schuldig sein.

Wir sind hier doch alle Menschen

einer wie der Andere."

(Prozess-Klav., 195f., Neuntes Bild)

 

Eine Lesart anzusetzen, die die in der aristotelischen Poetik angelegten Prinzipien zum Maßstab macht, um Franz Kafkas Prozeß und damit auch Gottfried von Einems Oper zu verstehen, legte auch Hermann Hesse wiederholt anhand des Romans nahe, indem er ihn als Werk der "Frömmigkeit" deutete, welches "Devotion" und "Ehrfurcht" hervorrufe:39 

"[Kafkas] Phantastik ist eine glühende Beschwörung der Wirklichkeit, eine dringliche Formulierung der religiösen Existenzfrage."40 Die Fabel dieser "konsequente[n] Tragödie der Sinnlosigkeit"41, "dies[es] unheimliche[n] Buch[es]"42, folgt, wenn es sich nicht um eine epische Dichtung handelte, mehrerer der Tugenden der Tragödie, wie sie Aristoteles gefasst hat. Dies zeigt sich bereits an der Fabel43: Josef K. ist weder ein makelloser Mensch noch ein Schuft, dem das Geschehene widerfährt. Er ist als ein unbescholtener Prokurist einer Bank und ein Held des Mittelweges. Aus wie auch immer gearteten Gründen – der Leser oder Zuschauer wird es, wie in vielen der attischen Tragödien auch, nie erfahren – schlägt sein Schicksal nach den eröffnenden acht Glockenschlägen innerhalb von neun Szenen bis zur endgültigen Entmenschlichung im Rahmen erschreckend widersinniger Plötzlichkeit um. Er selbst kann und will dabei die Gefahren, in denen er schwebt, letztlich nie anerkennen. Bezeichnend für den Prozeß ist ein Element, welches die Kafka-Forschung immer wieder thematisiert hat. Das eigentümliche Verhältnis der Handlung zur Wirklichkeit: das sprichwörtliche Phänomen des Kafkaesken. Herwig Gottwald hat in seiner Salzburger Dissertation diese Form der Wirklichkeitsdarstellung als weder einfach nur abbildend noch als nur verzerrend bezeichnet.44 Darin liegt wohl die dauerhafte Faszination der literarischen Werke Kafkas.

 

Nachvollziehbar erscheint es auch, warum ein Mensch mit den Erfahrungen, die Einem während der NS-Zeit gesammelte hatte, sich dazu entschieden hat, den Prozeß als Oper zu komponieren. Auch seine Librettisten Boris Blacher und Heinz von Cramer, der ferner Il Re cervo für Hans Werner Henze gedichtet hatte, teilten diese Erfahrungen.   

 

Einem übersteigert in seiner Vertonung als "Solistenoper"45 die eigentümliche Realistik Kafkas noch durch vor allen Dingen zwei kompositorische Elemente. Zum einen geschieht dies mit Hilfe der Spannung zwischen einer unmenschlichen, maschinell wirkenden martialischen Rhythmik, die nicht selten noch mit Ostinati, oder im extremen Fall sogar mit walking-bass-Elementen unterfüttert ist, und mit Hilfe des sparsamsten Einsatzes von lyrischer Momente, zum anderen durch die Neigung zum parodistischen Einsatz der Musik. Letzteres zeigt sich am Ende des ersten Teiles (Viertes Bild), der "ersten Untersuchung"(Prozess-Klav., 56–96). Die durch einen Passanten – denselben Sänger, der auch als Aufseher, Fabrikant und Geistlicher zu hören ist – vorangekündigte kleine Untersuchung (Drittes Bild) entpuppt sich aus musikalischer Perspektive als beinahe staatstragender Akt. Die zwischen C-Dur und D-Dur changierende Eröffnungsfanfare unter Einsatz des Blechs legt dies zunächst nahe. Die Untersuchungshandlungen selbst werden von einem unruhigen Sechzehntel-Streicherostinato zunächst in D-Dur, dann in Cis-Dur, und wieder in D-Dur umspielt, welches die Fanfare konterkariert. Diese Funktion wird übersteigert, als die Untersuchung vom Richter kurzfristig abgebrochen wird und in rhythmischer Verschiebung Fanfare und Sechzehntelostinato kombiniert werden (Prozess-Klav., 69, einen Takt nach Studienziffer 13 und 5 Takte vor Studienziffer 14).

Solchen Momenten der Unruhe, die kennzeichnend sind für die gesamte Oper, stehen nur wenige lyrisch-kontemplative, gewissermaßen menschliche Inseln der Ruhe gegenüber. Es sind meist die Szenen, in welchen Josef K. (Tenor) auf junge Frauen (ebenfalls von ein und derselben Sopranistin dargestellt) trifft, oder er über diese reflektiert. So auch im vierten Bild, im Duett mit der Frau des Gerichtsdieners. Zu einer Siciliana, die bezeichnender Weise später beim Auftritt des Jus-Studenten Bertolt wieder von Ostinati zerrissen wird, eröffnet sie ihm Details die Institution betreffend, in welcher er sich befindet, und ihrer leidvollen Existenz zwischen ihrem ohnmächtigen Ehemann, dem Gerichtsdiener, dem Untersuchungsrichter und einem Studenten. Wie auch Fräulein Bürstner und später Leni bietet sie ihm ihre Hilfe an. Das lyrisch dargebotene "Ewig-Weibliche", um hier Goethe aufzugreifen, scheint im Prozess das Symbol des Menschlichen darzustellen, dem die unmenschlich-ostinate Rhythmenwelt der Männer gegenüber steht.

Dies lässt sich auch am neunten und finalen Bild der Oper (Im Dom) demonstrieren. Dominiert ist dieses Bild, in welchem neben Josef K., ein Geistlicher und zum Ende Fräulein Bürstner nebst zwei stummen Herren auftreten, von einem ostinativen Rhythmus (Achtelnote, zwei Viertelnoten und drei Achtelnoten), der nur während der lyrischen Arie der Tenorpartie (Prozess-Klav., 200–203, Studienziffer 16 bis einen Takt vor Studienziffer 26) bzw. in deren Nachspiel (Gespräch zwischen Josef K. und dem Geistlichen, das von treibenden Achtelfiguren geprägt ist, Prozess-Klav., 204–207, ein Takt vor Studienziffer 26 bis einen Takt vor Studienziffer 30) schweigt, um dann von einem nach und nach verklingenden  Viertelrhythmus abgelöst zu werden (Prozess-Klav., 206 bis Schluss, einen Takt nach Studienziffer 25 bis Schluss). In der Kirche durchdenkt Josef K., der eigentlich dort ist, um einem italienischen Geschäftsfreund seiner Bank die Kunstschätze der Stadt zu zeigen, gemeinsam mit dem "Gefängniskaplan" seine Situation. Dort steht wieder das Ewig-Weibliche vor seinem geistigen Auge. Im Kirchenraum das Ewig-Weibliche zu finden erscheint, trotz Marienverehrung, deutscher Bischofskonferenz und Goethes Faust immer noch abwegig. Doch Frauen in Gebet und Kontemplation gehören zur Standard-Ausstattung von alledem, was sich Oper nennen darf, und daher kann es nicht verwundern, dass sich auch Joseph K. an jenem Ort noch einmal hoffnungsvoll zeigen kann, bevor dann das Urteil des mysteriösen Gerichtes an ihm vollstreckt wird. In seiner bereits erwähnten Arie tritt noch ein letztes Mal, und wieder im Cantilenen-Ton, jene Menschlichkeit in Erscheinung, die das Gericht Josef K. geraubt hat. In den Worten Karl Heinz Ruppels, in Bezug auf die romanesken Visionen Kafkas: „Hier nimmt denn auch die Musik, die in den Episoden mit den drei Frauen, von denen K. sich Hilfe verspricht, zuweilen die glatte Kantabilität durchaus bürgerliche Gefühlswallungen aufweist, eine Wendung ins Kantig-Strenge und Großartig-Harte; Orgelpunkt und Ostinati, bohrende Wiederholungen und schussartige knallende Tuttischläge wechseln mit dem eindringlich deklamatorischen und zugleich fast entrückten Melos, mit dem Josef K. die menschliche Souveränität, die ihm das Gericht entzogen hat, noch einmal angesichts des herannahenden 'Urteils' für einen             Augenblick zurückzugewinnen scheint."46            

 

4.

Danton: "[…] Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden,

es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür, wir werden

es uns einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was

sollen uns drum die Leiber aufbrechen? Geht, wir sind elende

Alchymisten."47

 

Mehr als sieben Jahre vor der Uraufführung des Prozess hatte von Einem seinen Opernerstling Dantons Tod auf ein Libretto, das er mit seinem Lehrer und Freund Boris Blacher gedichtet hatte, fertiggestellt. Eine wesentliche Änderung, die die beiden Bearbeiter am Text Büchners vorgenommen haben, rückt auch diese Oper in den hier dargestellten Antike-Tragödien-Kontext. Einem und Blacher machen nämlich aus dem Drama, das eine Tragödie der Redner darstellt, eine Literaturoper der Massengewalt, welche, ob bewusst oder unbewusst, manche These von Elias Canetti aufzugreifen scheint.48 In der Deutung der beiden Musikdramatiker erscheinen die großen Redner des Originals,49 deren Ansprachen bis auf eine Ausnahme von den historischen Quellen angeregt sind,50 nur noch als Schatten ihrer selbst, denn ihre Reden sind dem Ziel einer Chor-Oper zum Opfer gefallen. Folglich steht die entmenschlichte, maschinalisierte Masse gegen das Individuum. Nur im individuellen Moment, und dieser ist in der Regel wieder lyrischer Natur, kann es hervortreten. Dies geschieht beispielsweise in der Arie der Lucie (Nr. 9) oder im Larghetto-Ausklang der großen Szene des Robespierre (Nr. 7). Hier wird das Material aufgegriffen, welches Einem bereits in dessen Ansprache „Armes, tugendhaftes Volk!“ (Danton-Klav., 51–54) verwendet hatte. Diese Idee erhält dadurch besondere Prägnanz, dass ausgerechnet Robespierre als "Symbol für Terror und Demagogie"51 innerhalb der Folgen der Revolution einen solchen Moment für sich hat.                       

 

 

5.

"DER BÜRGERMEISTER:

Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden.

Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der

Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt."52

 

 

"DER BÜRGERMEISTER. Die GEMEINDE spricht ihm nach:

Nicht des Geldes – sondern der Gerechtigkeit wegen –

und aus Gewissensnot. Denn wir können nicht leben, wenn

wir ein Verbrechen unter uns dulden – welches wir ausrotten

müssen  – damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden –

und unsere heiligsten Güter."53

 

Als einen seltenen persönlichen wie auch künstlerischen Glücksfall, wenn Kritiker wie Joachim Kaiser auch anderer Meinung waren,54 kann man das Zustandekommen der Oper Der Besuch der alten Dame bezeichnen. Sie entstand mehr als fünfzehn Jahre später als Der Prozess und ist von dem hier skizzierten Betrachtungswinkel aus gesehen dennoch sehr eng mit ihm und Dantons Tod in Verbindung zu bringen. Friedrich Dürrenmatt, der erst von Gottfried von Einem mit Hilfe einer spontan eingeschobenen Vorstellung an der Wiener Staatsoper zur Freigabe seines Stückes, ja sogar zur eigenhändigen Bearbeitung überzeugt werden konnte,55 hat hierzu, auch wenn er dies eigentlich vermeiden wollte,56 den Deutungsansatz geliefert. In einer Anmerkung zum Erstdruck des Stückes in der Dramenfassung (1956) stellt er Claire Zachanassian auf die Position einer "Heldin der griechischen Tragödie."57 Im Gegensatz zu diesen Heroinnen ist es aber nur hintergründig das Schicksal, welches sie zu ihrem Handel treibt, sie kann sich ihre Rache schlicht und einfach leisten: sie kauft sich, wie sie selbst sagt, Gerechtigkeit für eine Milliarde. Im Gegensatz zur "unbewegten" Heldin, "von Anfang an",58 muss Ill erst zum Helden werden. Aristoteles wäre wohl nicht ganz unstolz auf Dürrenmatt, denn er setzt, zumindest zum Teil, dessen Forderungen mit moderner verve um: der Durchschnittsmensch, mit Adel durch Krämerladen und ein "gedankenloses Mannsbild"59 dazu, fällt dem Fluch seiner eigenen Vergangenheit zum Opfer. "Sein Tod ist sinnvoll und sinnlos zugleich, sinnvoll allein wäre er im mythischen Reich einer antiken Polis, nun spielt sich die Geschichte in Güllen ab. In der Gegenwart."60            

 

Dieses paradoxe Faktum dieser Tragikomödie verarbeitet Einem in seiner Vertonung wiederum mit dem Spiel zwischen lyrischen und rhytmischen Momenten ebenso wie mit einer gewissen Verfremdungstechnik. Herausarbeiten lässt sich dies im dritten Bild der Oper. Wie der Großteil der Bilder beginnt es mit einem Vor- bzw. Zwischenspiel des Schlagzeugorchesters. Die kunstvolle Instrumentation dieses Bildes erinnert entfernt an die der Scbweigsamen Frau von Richard Strauss. Fast schon manisch wird die Feier zu Ehren von Claire Zachanassian musikalisch gefeiert, was nicht zuletzt die Rede des Bürgermeisters, welcher mit einem "Heldentenor" (bei der Uraufführung im Übrigen mit Hans Beirer besetzt, der Einem zufolge vorgerechnet hatte, dass die Partie um 50 Takte umfangreicher sei als der Tannhäuser in Wagners gleichnamiger Oper61) überbesetzt scheint, unterstreicht. Nach dem Bruch der Stimmung durch den ebenfalls kunstvoll wie kleinteilig ausinstrumentierten und –inszenierten "Prozess" folgt mit der Verzichtserklärung des Bürgermeisters (Dame-Klav., 212–214) eine wiederum lyrisch verklärte Schilderung von Menschlichkeit. Es versteht sich von selbst, der Schluss mit dem Aufgriff der Variation dieses Themas macht das klar, dass diese Menschlichkeit nur eine Chimäre ist.       

 

 

6.

"Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des

Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe. Weder

die Kundgabe der Subjektivität des Denkenden noch die pure

Geschlossenheit des Gebildes in sich selbst entscheiden über des-

sen Charakter als Philosophie, sondern erst: ob Wirkliches in die

Begriffe einging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet."62

 

Auch wenn die hier skizzierten Gedanken nur einen groben Überblick darstellen können, so wird die anfangs aufgestellte These einer Dialektik von Humanismus und Antihumanismus vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung der Nachkriegskomponisten mit der attischen Tragödie verifiziert. Wenn dies für Werner Egk, Rolf Liebermann, Carl Orff oder Rudolf Wagner-Régeny an anderer Stelle zu zeigen sein wird, so ist für Gottfried von Einem der Befund eindeutig. Dies gilt zumindest für die drei hier besprochenen Opern. Prägend für sie ist auch der Befund, dass in ihnen stets ein Prozess im juridischen Sinne im Zentrum steht; die Handlungen drehen sich immer – und das gilt wohl für alle Opern Einems – um Anklage, Verteidigung und Verurteilung. Wohl ein Relikt von Einems nie verarbeiteter Nazismus, Kriegs- und Nachkriegserfahrung, wie er selbst betont hat.63 Allerdings, und das gilt auch für seine hier genannten Kollegen, tat er dies auf seine sehr individuelle Weise als stetiger Verteidiger des Humanismus, der diesen aber fortdauernd in Frage stellt. Letztlich bewahrheitete Einem damit seinen Leitspruch, wenn es um das Vertonen von Texten ging: „Nie einen Text, sei’s Oper oder Lied, componieren, an dessen innere und äußere Kraft um die Wahrheit der Begebnisse man nicht mit aller Überzeugung und Innigkeit glauben kann. Glauben. Ihn lieben. Lieben!“64  

 

Was für Texte und Musik gilt, gilt auch für den Humanismus als der Liebe zum Menschlichen: letztlich kann man auch den Menschen nur lieben, indem man seine dunklen Seiten und Abgründe mitliebt.

 

 


Auswahlbibliographie und weiterführende Literatur

 

 

Angelica Bäumer(Hg.): Gottfried von Einem und die Salzburger Festspiele, Salzburg 1998.

 

Thomas Eickhoff: Politische Dimensionen einer Komponistenbiographie im 20. Jahrhundert – Gottfried von Einem (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht [u.a.], Band 43), Stuttgart 1998.

 

Gottfried von Einem: Ich habe’ unendlich viel erlebt. Aufgezeichnet von Manfred A. Schmid, Wien 1995.

 

Dominik Hartmann: Gottfried von Einem. Eine Biographie (= Österreichische Komponisten des 20. Jahrhunderts, Band 11), Wien 1967.

 

Helmuth Hopf und Brunhilde Sonntag (Hg.): Gottfried von Einem. Ein Komponist unseres Jahrhunderts (= Musik, Kunst & Konsum. Herausgegeben von Helmuth Hopf und Brunhilde Sonntag, Band 1), Münster 1989.

 

Hans-Klaus Jungheinrich: „Politische und gesellschaftliche Aspekte der Oper seit 1945“, in: Udo Bermbach und Wulf Konolg (Hg.), Der schöne Abglanz. Stationen der Operngeschichte (= Hamburger Beiträge zur öffentlichen Wissenschaft. Herausgegeben von Rainer Ansorge [u.a.], Band 9), Berlin und Hamburg 1992, 243–262.

 

Konrad Lezak: Das Opernschaffen Gottfried von Einems (= Dissertationen der Universität Wien, Band 210), Wien 1990.

 

Odo Marquard: „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 117–139.

 

Brunhilde Sonntag (Hg.), Nach Frankreich zogen zwei Grenadier“. Zeitgeschehen im Spiegel von Musik (= Musik, Kunst & Konsum. Herausgegeben von Helmuth Hopf und Brunhilde Sonntag, Band 2), Münster und Hamburg 1991.



  1. Gottfried van Swieten: Die Schoepfung. Ein Oratorium. In Musik gesetzt von Joseph Haydn, Wien 1800, in: Georg Feder: Joseph Haydn. Die Schöpfung, Kassel [u.a.] 1999, 219.
  2. Bei den hier veröffentlichten Ausführungen handelt es sich um die Versammlung einiger Überlegungen zu meinem derzeit in Arbeit befindlichen Buch-Projekt mit dem Arbeitstitel „Das »Exil« und die »Stunde Null«“, die hier erstmals in Aufsatzform vorgelegt werden. Trotz des in sich geschlossenen Inhaltes dieses Textes ist es mir ein Anliegen, den Skizzencharakter dieser Aufzeichnungen zu betonen. Mein herzlicher Dank gilt Leslie Kleinwachter, Matteo Collettini und Alexander Zehmisch (alle Wien) für ihre kritische Lektüre und ihr genaues Lektorat dieses Textes. Die verbliebenen Fehler sind entweder meiner Unfähigkeit oder Sturheit im Umgang mit Verbesserungsvorschlägen geschuldet.     
  3. Vgl. http://www.salzburgerfestspiele.at/archiv, 15. Mai 2013.    
  4. Zur Schreibweise: der Roman von Franz Kafka trägt den Titel Der Prozeß, die Oper hingegen den Titel Der Prozess.
  5. Die jeweiligen Uraufführungen am 6. August 1947 und am 17. August 1953 wurden live mitgeschnitten, sind dadurch als Tondokumente erhalten und beim Label Cantus Classics 2004 und 2005 auf CD erschienen. 
  6. Vgl. Gottfried von Einem: Ich hab’ unendlich viel erlebt. Aufgezeichnet von Manfred A. Schmid, Wien 1995, 11.
  7. Ausführlich dargelegt im ersten Teil von Thomas Eickhoff: Politische Dimensionen einer Komponistenbiographie im 20. Jahrhundert – Gottfried von Einem (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht [u.a.], Band 43), Stuttgart 1998, 17–86. 
  8. Vgl. ausführlich hierzu Einem, a.a.O. (Anmerkung 6), 45–71.
  9. Vgl. ebd., 74. 
  10. Vgl. ebd., 97f.,
  11. Vgl. ebd., 81–87 und 90ff. 
  12. Vgl. Odo Marquard: „Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen“, in: Ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 117–139.
  13. Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte (1822/1828/1830). Herausgegeben von G. Lasson, Hamburg 51955, 29 zitiert nach Marquard, 117.
  14. Vgl. Marquard, 117.
  15. Ebd., 118.
  16. Vgl. Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Christine Pries, Wien 2006, 11. 
  17. Michael Foucault: „Jenseits von Gut und Böse“. Übersetzt von Michael Bischoff, in: Ders., Dits et Ecrits. Band II: 1970–1975. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2002, 276f.: „Unter Humanismus verstehe ich die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem westlichen Menschen gesagt hat: »Auch, wenn du keine Macht hast, kannst du dennoch souverän sein; ja, je mehr du auf Macht verzichtest, desto souveräner wirst du sein.« Der Humanismus hat nacheinander all diese unterwerfenden Souveräne erfunden: die Seele […]; das Individuum […]; die fundamentale Freiheit […].“  
  18. Stefan Zweig resümiert in rührenden Worten: „Hier spürte ich – und das löste immer für mich ein Glücksgefühl aus – menschliche, moralische Überlegenheit, eine innere Freiheit ohne Stolz, Freiheit als Selbstverständlichkeit einer starken Seele. Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm – und die Zeit hat mir Recht gegeben – den Mann, der in entscheidender Stunde das Gewissen Europas sein würde. Wir sprachen über [seinen Roman, S.H.] »Jean Christoph«.. Rolland erklärte mir, er habe versucht, damit eine dreifache Pflicht zu erfüllen, seinen Dank an die Musik, sein Bekenntnis zur europäischen Einheit und einen Aufruf an die Völker zur Besinnung. Wir müßten jetzt jeder wirken, jeder von seiner Stelle aus, jeder von seinem Land, jeder in seiner Sprache. Es sei Zeit wachsam zu werden und immer wachsamer. […] Der Widersinn sei sichtbar am Werke und Kampf gegen ihn wichtiger sogar als unsere Kunst. [Denn:, S.H.] »Sie kann uns trösten, uns, die Einzelnen«, antwortete er mir, »aber sie vermag nichts gegen die Wirklichkeit.« Das war im Jahre 1913.“ (Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (op. posthum 1942), Frankfurt am Main 372009, 235f.)   
  19. Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1–3. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main  1979, 261.
  20. So auch Caspar Neher in einem Brief an Gottfried von Einem, vgl. Einem, a.a.O. (Anmerkung 6), 136.
  21. Wörtlich: Vielfältig (ist) das Erstaunliche, doch nichts/ist erstaunlicher als der Mensch.“ Sinngemäß nach der heute noch maßgeblichen Übersetzung und Nachdichtung Friedrich Hölderlins (1803): „Ungeheuer ist viel, doch nichts/ungeheurer als der Mensch […]“, Sophokles: Antigone, v. 334, 1. Hälfte zitiert nach Gerhard Fink: Die griechische Sprache. Eine Einführung und eine kurze Grammatik des Griechischen, München und Zürich 21992, 206f., zu Hölderlin: 209. Auch Friedrich Dürrenmatt greift in seinem Besuch der alten Dame dieses Chorlied auf: „CHOR I: Ungeheuer ist viel/Gewaltige Erdbeben/Feuerspeiende Berge, Fluten des Meeres/Kriege auch, Panzer durch Kornfelder/rasselnd/Der Sonnenhafte Pilz der Atombombe. CHOR II: Doch nichts ist ungeheurer als die/Armut/Die nämlich kennt kein Abenteuer/Trostlos umfängt sie das Menschengeschlecht/Reiht/Öde Tage an öden Tag […]“, Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Neufassung 1980, Zürich 1998, 132.        
  22. Vgl. K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturantrophologischer Medientheorie, Frankfurt am Main 1999, 11–16.
  23. So für das zwanzigste Jahrhundert: Jean-Paul Sartre, Jean Cocteau, Simon O’Neill, Hugo von Hofmannsthal, T.S. Elliot, Thronton Wilder oder Hochhut, vgl. Wolfgang Schadewaldt: „Das Drama der Antike in heutiger Sicht“ (1952), in: Ders., Antike und Gegenwart. Über die Tragödie, München 1966, 7. 
  24. Zu den Eigenheiten der Antike-Rezeption im Rahmen des europäischen Bildungskanons, besonders zur These der Spiegelbildlichkeit dieses Rezeptionsvorgangs, vgl. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon (1999), Frankfurt am Main und Leipzig 2004, 49.     
  25. Vgl. Friedrich Heer: Abschied von Höllen und Himmeln. Vom Ende des religiösen Tertiär, München und Esslingen 1970, 43.
  26. Schadewaldt, a.a.O. (Anmerkung 23), 8 (Hervorhebungen im Original).
  27. Vgl. ebd., 9. 
  28. Grundsätzliche Einführungen zum Thema Tragödie in der Poetik des Aristoteles finden sich bei Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz –?Longin?. Eine Einführung (= Die Literaturwissenschaft. Einführung in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Teildisziplinen und Hilfswissenschaften), Darmstadt 21992, 1–110, speziell zur Tragödie 24–48, und Wolfgang Schadewaldt: Die griechische Tragödie (= Tübinger Vorlesungen. Unter Mitwirkung von Maria Schadewaldt. Herausgegeben von Ingeborg Schudonna, Band 4), Frankfurt am Main 9–34 [Einleitung: Aristoteles].
  29. Zum Begriff der Reinigung, der tatsächlich im Sinne einer medizinischen, nicht ethischen oder gar moralischen Reinigung zu verstehen ist, vgl. Fortunat Hoessly: Katharsis: Reinigung als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum (= Hymomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben. Herausgegeben von Albrecht Diehle [u.a.], Band 135), Göttingen 11 und 226 (Anmerkung 532).  
  30. Unter Ergänzung des altgriechischen Originalwortbestandes zitiert nach Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005, 1449b 24–28.
  31. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Ders., Werke in drei Bänden. Band II: Dramaturgie, Literaturkritik, Philologie und Allgemeines. Herausgegeben von Herbert G. Göpfert (1982), München und Wien 2003, 373–377 und 386–390.   
  32. Vgl. Wolfgang Schadewaldt: „Furcht und Mitleid? Zu Lessings Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes“, in: Gerhard und Sibylle Bauer (Hg), Gotthold Ephraim Lessing (= Wege der Forschung, Band 211), Darmstadt 1968, 336–342, hier: 336. Ausführlicher: ders.: „Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes“ (1955), in: Ders., Antike und Gegenwart. Über die Tragödie, München 1966, 16–60.  
  33. Vgl. Thomas Berger: Der Humanitätsgedanke in der Literatur der deutschen Spätaufklärung, Heidelberg 2008, 1–24.  
  34. Wolfgang Schadewaldt: „Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee“, in: Ders., Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Frankfurt am Main 1975, 9.
  35. Einen erhellenden Beitrag zum Menschenbild bei Aischylos und Sophokles bietet Ernst Günther Schmidt: „Das Menschenbild bei Aischylos und Sophokles“, in: Ders., Erworbenes Erbe. Studien zur antiken Literatur und ihrer Nachwirkung, Leipzig 1988, 119–178.
  36. Vgl. Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ (1971), in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede (1981), Stuttgart 2001, 104.
  37. Schadewaldt, a.a.O. (Anmerkung 34), 12 (Hervorhebung im Original). Zu den Facetten des Begriffes „Menschlich“, vgl. ebd., 10–15.
  38. Das Zitat wurde auch im Titel verwendet. Notenmaterial wird im Text wie folgt abgekürzt zitiert: Danton-Klav.: Dantons Tod. Eine Oper in zwei Teilen (sechs Bildern) frei nach Georg Büchner von Gottfried von Einem. Text eingerichtet von Boris Blacher und Gottfried von Einem, Wien [u.a.] 1947ff. Prozess-Klav.: Der Prozess nach dem Roman von Franz Kafka. Neun Bilder in zwei Teilen von Boris Blacher und Heinz von Cramer. Musik von Gottfried von Einem. Klavierauszug vom Komponisten, Berlin [u.a.] 1953ff. Besuch-Part.: Der Besuch der alten Dame. Oper in drei Akten nach Friedrich Dürrenmatts tragischer Komödie op. 35. Opernfassung von Friedrich Dürrenmatt. Studienpartitur, London [u.a.] 1970ff. Grundsätzlich werden zunächst die Seitenzahlen, nach Bedarf dann Takte und Studienziffern angegeben.
  39. Hermann Hesse: Franz Kafka. Der Prozeß (1925–1935), in: Ders., Schriften zur Literatur 2. Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Herausgegeben von Volker Michels (= Ders., Gesammelte Werke, Band 12), Frankfurt am Main 1987, 482ff., hier: 482 (1925).
  40. Ebd., 484 (1933).
  41. Ebd., 484 (1935).
  42. Ebd., 483 (1933).
  43. Vgl. Aristoteles, a.a.O., 1452b–1453a.
  44. Vgl. Herwig Gottwald: Wirklichkeit bei Kafka. Methodenkritische Untersuchung zu ihrer Gestalt, Funktion und Deutung anhand der Romane „Der Prozeß“ und „Das Schloß“ (= Salzburger Beiträge. Herausgegeben von Walter Weiss [u.a.], Band 19 in: Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Herausgegeben von Ulrich Müller [u.a.], Band 232), Stuttgart 1990, 140.
  45. Vgl. Konrad Lezak: Das Opernschaffen Gottfried von Einems (= Dissertationen der Universität Wien, Band 210), Wien 1990, 99.
  46. Karl Heinz Ruppel: „Musik zu Kafkas Visionen“, in: Programm der Hamburger Staatsoper, 4. Heft, 1953/54 zitiert nach Lezak, a.a.O., 103.
  47. Georg Büchner: Danton’s Tod. Ein Drama, in: Ders., Dichtungen. Herausgegeben von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann (1992), Frankfurt am Main 2006, 39 [II, I, 26–31]. 
  48. Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht (1960), Frankfurt am Main 322011.
  49. Anzumerken ist hierzu, dass Boris Blacher und Gottfried von Einem für ihr Libretto auf die Erstausgabe des Stückes bei J.D. Sauerländer/Frankfurt am Main aus dem Jahr 1835 zurückgegriffen haben. Diese war, was beiden zunächst nicht bekannt war, in Wortwahl und Inhalt abgeschwächt und eingreifend gekürzt worden, vgl. Sabine Pätzold: „Gottfried von Einems Oper »Dantons Tod«, in: Brunhilde Sonntag (Hrsg.), Nach Frankreich zogen zwei Grenadier“. Zeitgeschehen im Spiegel von Musik (= Musik, Kunst & Konsum. Herausgegeben von Helmuth Hopf und Brunhilde Sonntag, Band 2), Münster und Hamburg 1991, 41. 
  50. Zu den Reden in Dantons Tod, speziell zu der des St. Just,  vgl. Ivan Nagel: „Dantons Tod. Drei Studien zur Rede des Saint-Just“ (1980–1989), in. Ders., Schriften zum Drama, Berlin 2011, 211–256.  
  51. Pätzold, a.a.O. (Anmerkung 49), 41.
  52. Dürrenmatt, a.a.O. (Anmerkung 21), 50 [I, Interieur des Goldenen Apostels].
  53. Ebd., 126 [III, Theatersaal des Goldenen Apostels].
  54. Vgl. Joachim Kaiser: „Der Tanz um die goldene Greisin“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 247, 27. Oktober 1975, 8 zitiert nach Eickhoff, a.a.O. (Anmerkung 7), 275. Die Kritik entstand anlässlich einer Münchner Aufführung. Kaiser kritisiert vor allen Dingen die „defizitäre Auslotung des Librettotextes durch die Musik und warf gleichsam die unterschwellige Frage auf, inwieweit deshalb die Opernfassung überhaupt als „Literaturoper“ bezeichnet werden dürfe,“ Eickhoff, a.a.O., 275.
  55. Vgl. Einem, a.a.O. (Anmerkung 6), 237–239. Egon Hilbert ersetzte eine Aufführung des Don Giovanni durch Dantons Tod am 18. Dezember 1967, vgl. http://db-staatsoper.die-antwort.eu/performances/9804, 18. Mai 2013.   
  56. „Ich zähle mich nicht zur heutigen Avantgarde, gewiß, auch ich habe eine Kunsttheorie, was macht einem nicht alles Spaß, doch halte ich sie als meine private Meinung zurück (ich müßte mich sonst gar nach ihr richten) und gelte lieber als ein etwas verwirrter Naturbursche mit mangelndem Formwillen. […] Man bleibe bei meinen Einfällen und lasse den Tiefsinn fahren, achte auf eine pausenlose Verwandlung ohne Vorhang, spiele auch die Autoszene einfach, am besten mit vier Stühlen. (Diese Szene hat nichts mit Wilder zu tun – wieso? Dialektische Übung für Kritiker.)“, ebd., 142 (Anhang: Anmerkung I).
  57. Ebd.
  58. Ebd., 143.
  59. Ebd.
  60. Ebd.
  61. Vgl. Brief Gottfried von Einems and Brunhild Sonntag vom 23. März 1971 zitiert nach Eickhoff, a.a.O. (Anmerkung 7), 263.
  62. Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (= Ders., Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Band 2), Frankfurt am Main 2003, 8. 
  63. Vgl. Einem, a.a.O. (Anmerkung 6), 201. 
  64. Einem, a.a.O. (Anmerkung 6), 235.