Die Suche nach der Fortsetzung des Neuen
Es klopft, knistert, schillert, rauscht, knarzt und tönt...
Neben den traditionsreichen Darmstädter Ferienkursen, die einen der größten Treffpunkte der Neuen Musikszene darstellen, hat sich das impuls Festival nebst Akademie innerhalb der letzten Jahre vom "Geheimtipp" zu einer beachtlichen Institution gemausert. Knapp 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Herren Länder treffen sich heuer in Graz, um zwei Wochen lang gemeinsam in Workshops, Vorträgen, Konzerten, Proben und im Einzelunterricht mit Spezialisten der zeitgenössischen Musik zu arbeiten, diskutieren, proben, zuzuhören und Neues zu lernen.
In der gespannten Stille, die in der Helmut-List-Halle vor Konzertbeginn herrscht, spürt man die besonderen Erwartungen des Publikums: Die "alten Hasen" sind gespannt, was die junge Generation zu sagen hat, die Jungen unter den Komponisten hoffen vielleicht, einmal selbst an derart prominenter Stelle gespielt zu werden. Allesamt sind gespannt auf etwas Neues, das nie-gehörte musikalische Abenteuer einer Uraufführung.
Die vier neuen Werke junger Komponistinnen und Komponisten, allesamt Preisträger des letztjährigen impuls-Wettbewerbs, verkörpern oder "verklanglichen" die Festivalidee. Nachhaltig soll impuls sein, nicht nur Lehrhaftes präsentieren, sondern einen Lernort und eine Plattform zum Austausch für die junge Musikergeneration bieten. Wer lernt, darf experimentieren, Unterschiedliches wagen, auch mal scheitern, und erneut versuchen.
Matthias Kranebitter konfrontiert in fröhliche Verunstaltungen die europäische Musiktradition mit ihren eigenen Untiefen. Die Banalität musikalischer Handlungen interessiere ihn, die Grenze zwischen Musikalität und Nichtmusikalität, so der Komponist in der Podiumsdiskussion nach dem Konzert. Er bediene sich bewusst übertriebener, klischeehafter Gesten. Die beiden Bläsersolisten tröten rüde in ihre Instrumente, die Streicher vollführen pseudovirtuose Passagen, der sonst so präzise interpunktierende Dirigent Enno Poppe wirft mitten im Stück seinen Taktstock weg. Während man anfangs noch schmunzelt, bleibt im Laufe des Stücks die Stimmung auf der Strecke. Das Klangforum Wien macht seine Sache gut, zu gut, als daß man die gespielte Unprofessionalität glauben kann. Selbst im wilden Tuttigebraus merkt man, dass bei den Musikern jeder Ton sitzt. Und zugleich sind die theatralischen Gesten des Stückes etwas zu zaghaft, um dem Musikgeschehen eine durchgehend ironische Ebene hinzuzufügen. So bleibt ein etwas blasser Eindruck zurück, als hätte ein Komiker einen Witz erzählen wollen, aber auf halbem Wege die Pointe zurückgenommen.
Einen ganz anderen Weg schlägt Anna Mikhailova ein. Die russische Komponistin, die sich in ihrem Schaffen zwischen Medienkunst, Improvisation, Komposition und Film bewegt, versucht mit Bonus of Binary Balance einen Mittelweg zwischen Komposition und Klanginstallation. Die Klangpalette begrenzt sich weitgehend auf Reibe- und Klopfgeräusche, durchsetzt von ein paar Momenten der Stille und des Innehaltens. Ein gestrichenes Becken, ein verhaltener Klavierakkord durchteilen wie Fragezeichen den Raum. Schließt man die Augen, dann möchte man sich beim Zuhören gern von allen Seiten von den dezenten Geräuschen eingehüllt fühlen. So aber sieht und hört man frontal auf dem Podium das gut besetzte Klangforum einschließlich seines Dirigenten wie im Akkord arbeiten. Auch wenn Enno Poppe fast schon entschuldigend kleine Gesten macht, und seine ansonsten sehr starke Bühnenpräsenz weitgehend zurücknimmt, verwirrt es trotzdem, den Dirigenten trotz nicht wahrnehmbarer metrischer Organisation im strengen Viervierteltakt schlagen zu sehen. Man bedauert am Ende ein wenig, dass die Komponistin für ihre Idee nicht eine freiere Umsetzung ohne Dirigat gewählt hat, die den räumlich-installativen Charakter ihres Werks besser zur Geltung gebracht hätte.
Das dritte Stück dieses Abends stammt von der schwedischen Komponistin Malin Bång. Sie gehört unter den Jungen zu denjenigen, die es bereits "geschafft" und sich einen beachtlichen Platz im aktuellen Musikrepertoire erobert haben. Ihre Werke werden international aufgeführt, sie ist als Dozentin gefragt, und gründete zudem mit dem Ensemble "Curious Chamber Players" 2005 ihren eigenen Klangkörper, mit dem sie seitdem zusammenarbeitet. Ihre Musik spielt mit viel Instrumental-Geräuschhaftem á la Lachenmann, bezieht aber auch Anleihen aus der Musique Concrète, Klangkunst, sowie manche theatralische Aktion mit ein. Das Werk irimi stellt sich als musikalisches Ritual dar. Das Orchester rauscht, knirscht, stampft, und abschnittsweise schaukelt sich ein Rhythmus bis zur Explosion auf.
Das alles verfehlt zuerst nicht seine Wirkung, aber im Aneinanderreihen und Wiederholen lässt während des Stücks die Spannung nach. Das liegt einerseits an den gleichbleibend wiederkehrenden Geräuschcharakteren, die beim zweiten Mal nicht mehr so fesseln wie am Anfang, andererseits sticht spätestens nach einer Minute das Quietschen des Oboenrohrs dem Hörer im Ohr, das sich wie ein Tinnitus mit wenigen Pausen durchs ganze Stück zieht. Als spannende Unterbrechung lassen zwischendrin die undirigierten, improvisatorischen Teile aufhorchen. Alle Musiker spitzen mit einem Schlag die Ohren und erzeugen gemeinsam wunderbar intensive, vielschichtige, vibrierende Geräuschkulissen. Als Irritation in Bezug auf die Gesamtaussage des Stückes bleiben die theatralischen Gesten der Musiker im Raum stehen. Das Reiben der Streicher auf ihren Bögen erinnert unversehens und fast schon ironisch an ein kirchliches Ritual, wenn die Instrumentalisten ihre Reibstöcke und Geigenbögen auf Kommando Enno Poppes wie Kruzifixe langsam aus dem Orchester recken. Ob dieser Eindruck von der Komponistin intendiert ist, bleibt offen.
Als letztes Stück des Abends führt Aeon von Daniel Figols-Cueva nochmals in eine völlig andere Sphäre. Im Blind-Hörtest ordnet ein geschulter Hörer zeitgenössischer Musik dieses Werk wohl spontan als "typisch französisch" ein: das Klangforum erschafft in kompakter Kammerbesetzung mit reichlich Bläsern eine farbig-transparente, federleicht-fein ausbalancierte, schimmernde, aus zahlreichen Kleinstgesten zusammengeschmolzene Klangstruktur, die immer wieder von Akzenten punktiert und durch Crescendi aufgewirbelt wird. Boulez und Kollegen grüßen von Ferne. Ein Blick ins Programmheft bestätigt, dass der gebürtige Spanier in Paris sein kompositorisches Handwerk gelernt hat. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern im Konzertprogramm verzichtet Aeon sowohl instrumental, als auch performativ oder formal auf große Experimente. Das dreiteilige Stück mit kontrastierendem Mittelteil, dessen Schlußteil wie ein Möbiusband nahtlos zum Anfang zurückkehrt, ist formal leicht nachvollziehbar ausgestaltet und spannt durch ein paar effektvolle Steigerungen von Anfang bis Schluß einen dramatischen Bogen. Der klangliche Reichtum der dichten musikalischen Textur kommt dabei den Herztugenden des Klangforum voll entgegen: Zuhören, zusammen einen spannenden, farbenreichen Klang erzeugen, und dabei technische Schwierigkeiten mit Leichtigkeit meistern, das können sie wunderbar. Und sie tun es mit Hingabe, wie man ihnen anmerkt. So gerät dieses Schlußstück zum intensivsten musikalischen Erlebnis des Abends. Und genau an dem Punkt, als man sich denkt, jetzt könne es vorbei sein, ist es vorbei.
Ende, Applaus. Was bleibt? So verschieden die Werke voneinander sind, zeigen sie, dass letztendlich alle Komponistinnen und Komponisten der jungen Generation weltweit die gleichen Fragen und Probleme beschäftigen. Im überfordernd-vielfältigen Schmelztiegel verschiedenster Stile, Formen, Ästhetiken suchen sie nach einem eigenen, unverwechselbaren Ausdruck. Dabei erscheint angesichts von globaler Mobilität die kulturelle Identität eines Komponisten manchmal weniger prägend als die kompositorische Ausbildung, scheint die stilistische Schule für manche ein sicherer Rückzugsort anstelle einer eigenen ästhetischen Position zu sein.
Weiterhin ist allen Jungen gemeinsam, dass sie jenseits der etablierten Grenzen der Künste nach neuen Formaten suchen. Die vier "Versuchsanordnungen" dieses Konzertabends zeigen aber auch, dass es viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl braucht, will man unterschiedliche Sparten miteinander kombinieren. Angesichts der verwirrenden Vielfalt an Mitteln, Techniken, Formen innerhalb der Künste benötigt ein Künstler nicht nur großes Wissen auf allen Gebieten, sondern auch sicheres Gefühl für die dramatische und performative Wirkung unterschiedlicher Formate.
Die heutige junge Generation in der Neuen Musik ist die erste, die nicht mehr ständig Tabus brechen oder unter widrigen Bedingungen arbeiten muss. Die zeitgenössische Musik hat Tradition angesetzt, es existieren Institutionen und hochprofessionelle Ensembles. Das ist ein großes Kapital, mit dem man wirtschaften kann. Es kann sich auch als Hindernis erweisen: Komponisten müssen lernen, mit einem Profiorchester wie mit einem (all-)mächtigen Werkzeug weise umzugehen. Das erfordert nicht nur sicheres kompositorisches Handwerk, sondern auch bewusste Ökonomie und Ernsthaftigkeit. Die Musiker des Klangforum nehmen ihre pädagogische wie künstlerische Aufgabe sehr ernst und erweisen sich in der Diskussion als kritisch-genau, aber auch voll Anspruch gegenüber den jungen Komponistinnen und Komponisten. Eine Aufführung dieses Orchesters ist das strengste Urteil, dem sich ein Werk unterziehen kann, denn die Präzision der Musiker und ihr unbedingtes Engagement für die Musik können sowohl zum "Geburtshelfer" für Komponisten werden, als auch Schwachstellen bloßlegen.
Sofern die vier Werke dieses Abends einen repräsentativen Enblick in die aktuelle Musikszene darstellen, zeigen sie eines ganz deutlich: die junge Generation heutiger Künstler ist bestens ausgebildet, weiß mit heterogenen Stilen und Techniken umzugehen. Jeder sucht für sich nach einer Antwort auf die Frage: was und warum kann man heute noch komponieren? Die ultimative Antwort darauf gibt es nicht. Die Komponistinnen und Komponisten, die die Möglichkeit hatten, für den heutigen Abend mit dem Klangforum zu arbeiten, sind nicht privilegiert vor ihren Kollegen. Sie befinden sich, genauso wie alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des impuls-Festivals, auf der Suche nach dem Neuen. Die (vorläufige) Botschaft des Eröffnungsabends des impuls-Festivals lautet: Wir alle suchen. Weiter.
Margarethe Maierhofer-Lischka