Salzburg Biennale - Kafkas Heidelbeeren

Der Alltag als spannendes Experiment

Das dritte Wochenende der Salzburg Biennale begann im Musiktheaterschwerpunkt szenenwchsel mit der österreichischen Erstaufführung von Matthias Kauls Kafkas Heidelbeeren (2005) im Theatersaal der Salzburger ARGEkultur. Kauls Imaginäres Vokal- und Instrumentaltheater für Sopran, Mundartistin, Schauspieler, Flöte, Gitarre, Schlagzeug und Klangregie war in einem dunklen Saal angesiedelt, in dem die einzelnen Instrumente – darunter auch Glasflaschen, Staubsauger und aufziehbare Spielautos – in einzelnen Stationen verteilt waren. Genau so wie die Musiker zwischen den einzelnen Stationen hin und her wanderten, wechselten auch Textauszüge von Franz Kafka, Roland Barthes und Henri Michaux mit Zitaten aus Liedern von Franz Schubert, rockigen Schlagzeugrhythmen und stilisierten Alltagsgeräuschen. Und doch wurden sie in ihrer laborähnlichen Anordnung und experimenthaften Ausführung unter dem Motto "...dass immer wieder alles neu ist, da es zu einer anderen Zeit an einer anderen Stelle scheinbar gleich wieder auftritt ..." –ein Gedanke, den Kaul bei Kafka entlehnt, – zusammengeführt. Dieses Zitat taucht als eine Art Thema wiederholt auf.

 

Wie ein roter Faden zieht sich durch das Stück die Faszination des Neu-Betrachtens und des Neu-Sehens alltäglicher Gegenstände und Situationen. Flaschen und Staubsauger werden zu Instrumenten und damit ihrer herkömmlichen Verwendung entrissen. Oft entstehen der Klang und seine Veränderungen durch eine Verbindung von menschlichem Körper und Gegenstand, in der Relation der Körper und Gegenstände zueinander bewegt sich der neuentstehende Klang. Auch der menschliche Körper wird zum Experimentierfeld, wenn die Musiker Mikrofone in den Mund nehmen und aus ihren Körpern plötzlich eine andere Stimme spricht. Die Grenzen von Körper, Gegenstand und Klang werden getestet, gedehnt und ausgeweitet.

 

Alle Ausführenden – es ist schwer zu entscheiden, ob hier von Musikern oder Darstellern gesprochen werden sollte – gingen mit einer Mischung aus kindlicher, naiver Neugier und dem scheinbar manchmal schwer zu tragenden Bewusstsein der Realität mit den sich immer wieder neu entwickelnden (Klang)Konstellationen um. Die musikalische, klangliche und darstellerische Vielfalt aller Beteiligten war äußerst beeindruckend und schuf eine konzentrierte Atmosphäre, die es erlaubte sich auf die verschiedenen Situationen des Stücks einzulassen.  

 

Matthias Kaul führt in Kafkas Heidelbeeren dem Publikum den Versuch einer Entgrenzung von Körper, Klang und menschlicher Beziehung vor. Das Aufzeigen neuer Betrachtungs- und Verwendungsweisen betont die Relativität aller Gegenstände, ihrer Verwendung und ihrer Relationen. Ein gelungener Theater-/Konzertabend, der sicherlich beim Kauf der nächsten Weinflasche oder dem versehentlichen Einsaugen einer Plastikfolie blitzartig im Gedächtnis wieder zum Vorschein kommt und einen neuen Blick auf altbekannte, alltägliche Gegebenheiten öffnet. 

 

Anja Arend