Vermittlung Magazin

Friedrich Cerhas Bühnenwerke: unangepasst

Anmerkungen zu seinem Komponieren und zum Umfeld

ESSAY
Lothar Knessl

Musikologe, Programmgestalter, Kulturredakteur, Pressechef der Wiener Staatsoper, Präsident der IGNM Österreich, Musikkurator, MICA-Mitbegründer.

Das Wort unangepasst als Motto dieser kursorischen Betrachtung ist keinesfalls negativ besetzt. Es bedeutet einerseits, dass Cerhas Kompositionen für die Bühne – und nicht nur diese – zwar von den Klangbildern ihrer Entstehungszeit durchdrungen sind, vielleicht auch subkutan den Zeitgeist reflektieren. Vorrangig aber sind sie abseits von einer meist flüchtigen Modeströmung formuliert,  gefestigt durch eine wandlungsfähige Tonsprache, die sich summarisch als Personalstil agnoszieren lässt: unverkennbar Cerha, abseits von jeglichem polystilistischen Mischmasch, und schon dadurch unangepasst.

Andererseits bezieht sich unangepasst existenziell auf die Hauptprotagonisten seiner Bühnenwerke. Wie diesen außerhalb von Gesellschaftsnormen stehenden Individuen zu begegnen ist, liegt im Ermessen der Rezipienten – Sympathie nicht ausgeschlossen. 

 

Cerhas Bühnenschaffen kann im vorgegebenen Rahmen nur global erörtert werden. Ein auch nur rudimentärer zeitgeschichtlicher Vergleich mit Bühnenwerken anderer Komponisten derselben oder nächst jüngeren Generation, entstanden im gleichen Zeitraum wie jene Cerhas, also zwischen 1960 und 2000, vermag dessen unabhängige Positionierung zu verdeutlichen.

 

Klangtheater, Musiktheater und Experimente: Spiegel und Netzwerk

 

Am Anfang steht der siebenteilige Spiegel-Zyklus (Entwurf: 1960/61), bis zur Uraufführung des Gesamtzyklus dauerte es zwölf Jahre. Ein vegetativ aus Klangfarben und Massenstrukturen sich entfaltendes Werk von singulärem Rang. Cerha reiht es unter die Bühnenwerke und hat selbst ein Libretto dazu geschrieben. Grundthema: Spiegelungen von Visionen und Evolutionen. Keine engen Vorgaben für Regie und Bewegungsabläufe. Aber doch der Hinweis, Visuelles und Licht mögen sich aus den Strukturen der Musik und ihrer Farben ableiten. Der akustische Eindruck evoziert Vorstellungen von Licht-Phänomenen, helle oder düstere Farben, gelöste Heiterkeit oder bedrängende Härte. Man verfalle aber nicht dem Irrtum, Cerha habe illustrierende Programmmusik geschrieben.

 

 

Die Spiegel-Musik gehorcht kompositorisch völlig autonomen Formen komplexer Faktur. Ich würde sie dem Überbegriff Musiktheater zuordnen, obwohl derlei Kategorisierungen für den Komponisten irrelevant sind, aber sie dennoch nützen, weil einer der drei Haupt-Parameter dieser als Mischform etablierten Gattung – Musik, Wort, Szene – hier fehlt: die Sprache. Fehlt diese, ist die Bezeichnung Oper unangebracht.

Nebenbei erwähnt: Der Terminus Musiktheater ist ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, sinnvoll anwendbar auf wenige Werke aus dessen erster Hälfte – Schönberg, Strawinsky, Berg, Weill –, en vogue, letztlich modisch geworden nach 1950 infolge exemplarischer Inszenierungen von Felsenstein und Wieland Wagner. Dabei ist zu unterscheiden, ob formalästhetische oder interpretationsästhetische Kriterien ausschlaggebend sind. Erstere folgen der Enthierarchisierung beziehungsweise Auflösung festgefahrener Gestaltungsparameter, vorerst mit dem Ziel einer Anti-Oper. Letztere beziehen sich auf das Transferieren oder Umdeuten der Stoffe historischer Werke in aktuelle Wiedergabe-Aspekte.

Formalästhetisch ließen sich die Spiegel als Klang- oder Klangraumtheater bezeichnen. Zur dominanten Musik gesellen sich visuell Bewegungsabläufe – aber kein klassisches Ballett – und, zum Beispiel, abstrakte Video-Zuspielungen. Zur Entstehungszeit der Spiegel war dieser Begriff jedoch noch gänzlich ungebräuchlich. Er tauchte erst kurz nach 2000 auf,  im Zusammenhang mit Beat Furrers Fama (2004/05). Man könnte also sagen, Cerhas kompositorisch innovative Spiegel waren entwicklungsgeschichtlich insofern unangepasst, als sie lange vor der Konstituierung des musiktheatralischen Terminus Klangtheater entstanden.

Ähnliches gilt für Roman Haubenstock-Ramatis Amerika, bezogen auf das damalige Opernumfeld eine Pionierleistung, und die Vorwegnahme eines alle einschlägigen Parameter umfassenden Musiktheaters, also: Musik, Sprache, Gesang, Pantomime, Bühnen- und Lichtgestaltung, Film, Zuspieltonbänder, sowie mittels Lautsprechergruppen wandernder Raumklang. Geschrieben zwischen 1961 und 1964, uraufgeführt in Berlin 1966. Quasi zu früh: noch wurde das Werk missverstanden, weil es mehrdeutig ist, dem linearen Zeitablauf enthoben, partiell simultan darstellbar, mit viel Freiraum für Regie und Inszenierung. (Erst 2004 erlebte ich eine durchgehend überzeugende Aufführung in Bielefeld.) 

Mit mangelnder Rezeptionsbereitschaft sah sich Cerhas Netzwerk zum Zeitpunkt der UA (1981, Wiener Festwochen) konfrontiert. Ich würde es der Gattung experimentelles Musiktheater eingliedern. Meiner Meinung nach Cerhas komplexestes Stück für das Theater, und von ihm ganz speziell hochgeschätzt. Gewachsen aus den strukturell vielfach verzahnten Exercises für Bariton, Sprecher und Ensemble, in mehreren Fassungen 1962 bis 1967 geschrieben, und zwischen 1978 und 80 zum Bühnenwerk ausgeweitet, nun für Bariton, Sopran, fünf Sprecher, Mimen und Bewegungsgruppe. Es zeigt ein kritisches Bild von einer Welt als vernetztes System, in Ansätzen auch ein Welttheater mit letalem Ausgang. Der Komponist fokussiert sein Interesse auf Prozesse, die Veränderungen in einer Gesellschaft, im Einzelindividuum, in Organismen schlechthin betreffen, weiters auf Phänomene von sich selbst regulierenden Ordnungen. Generalthema ist das Spannungsfeld Individuum – Masse – Macht  im Rahmen soziologischer Normen. Dieses Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv musiktheatralisch darzustellen, bleibt dem Komponisten fürderhin ein stringentes Bedürfnis. Netzwerk hat schon aus musikalischen Gründen einen unabänderbar definierten Gesamtablauf – das entspricht durchaus den obligaten Opernformen –, aber der Text ist weitgehend nonsemantisch: er ist aus lautsprachlich abstrakten Phonemen gebaut und erweckt allenfalls bestimmte Assoziationen, die auf Grund der jeweilige Inszenierung sich einstellen.

Experimentelles Musiktheater existiert zur Zeit von Netzwerk schon in unterschiedlicher Ausprägung. Noch kurz davor war die Oper sozusagen persona non grata, was damit zusammenhängen mag, dass die kurze Zeit serieller Musik infolge ihrer totalen Prädeterminierung mit derlei unorthodoxen Mischformen nichts anzufangen wusste. Dann aber, um 1960, boomt eine Welle unkonventionellen Musiktheaters, als gälte es, Vernachlässigtes wettzumachen. Wollte man  untersuchen, wem die ideellen Prioritäten zuzusprechen wären, sollte man sich nicht an die Uraufführungsdaten klammern, sondern an den Beginn der jeweiligen Entstehungszeit, in der die Imagination und das gedankliche Konzept den Fortgang  bestimmen. Und da zeigt sich, dass zwar zu bestimmten Zeitpunkten verwandte  Interessen geltend werden – sozusagen Trend bildende –, aber ebenso auf den Einzelfall eingeschränkte Innovationen Nachfolgewirkung haben können. Es herrscht also in den Netzwerk-Jahren Vielfalt – nicht der ad libitum austauschbare Pluralismus. Cerha befindet sich da in bester Gesellschaft, und vorausdenkend insofern unangepasst, als die Konzeption für Exercises 1962 in ihrer Art noch singulär war, ohne verwandte Parallelphänomene.

Einige Hinweise auf das im zeitlichen Umfeld entstandene Musiktheater dokumentieren die kompositorisch höchst divergenten Herangehensweisen. 1960 begann Bruno Maderna, Hyperion zusammenzufügen: eine offene Form, Textsequenzen Hölderlins stinnstiftend inkludierend, errichtet aus vertauschbaren und quantitativ variabel einsetzbaren, instrumentalen wie vokalen Bausteinen. Die Soloflöte ist personifiziert Hölderlin. Eine erste integrale Version erklang 1964. 1960 schrieb Luigi Nono Intolleranza, politisch und sozialkritisch akzentuierte Azione scenica mit mehreren mehrsprachigen Textquellen und einem angedeuteten Handlungsablauf in Stationen. 1962 überraschte György Ligeti mit Aventures, ein Paradebeispiel des nonsemantischen und absurden Musiktheaters, vielleicht die Fluxux-Bewegung reflektierend, gestützt auf die Artikulation akustischer Affekte,  komprimiert in Klang gesetzte Psychogramme, quasi eine Anti-Oper. (1974-1977 schrieb dann Ligeti die Anti-Anti-Oper Le grande macabre. Der Zeitgeist wendete sich wieder mehrheitlich üblichen Opern-Usancen zu, nicht so in kleiner besetzten Gebilden, da reüssiert nach wie vor das Musiktheater.) 1962 entstand Passaggio von Luciano Berio, genannt Messa in scena, das heißt Inszenierung, ein Stationendrama politischen und sozialkritischen Inhalts. Auf der Bühne nur eine leidende Frau. Der in Gruppen räumlich geteilte Chor kommentiert einerseits, andererseits verkörpert er mittels mehrsprachiger Textpartikel das reaktionäre Prinzip. (Mehrsprachigkeit und Übereinanderlagerung von Texten sind eine gelegentlich bis heute geübte Praxis.) Ein Gegenentwurf zur Opernbühne ist das doppelbödige, kammermusikalische Theaterstück Sur scene von Mauricio Kagel  (1960), eine dem instrumentalen Theater zugehörige Satire. Kagels Kontraposition  kulminiert im Staatstheater (1971), dem zum Gegenteil umfunktionierten Abbild der historischen Oper. Bernd Alois Zimmermann kreiert in Die Soldaten (1958-60, 1963-64) mittels Simultanszenen und Zeitüberlagerungen die Kugelgestalt der Zeit. Ernst Krenek überwindet in Der goldenen Bock (1964) durch mehrschichtige Handlungsabläufe sowie surreale Zeitsprünge Kontinuität und Logik. Auch Hans Werner Henze überbrückt in den Bassariden (1966, opera seria mit Intermezzo) die Zeiteinheit. 1961 bis 1967 reflektierte Henry Pousseur im Gefolge von John Cage mit dem variablen Musiktheater Votre Faust (Euer Faust) zeitgeistig die Aleatorik. Das Publikum entscheidet in den Aufführungspausen durch Abstimmen mit verschiedenfarbigen Kugeln den Ausgang des Stückes. Es kann zum Beispiel Gretchen überleben lassen oder Faust vollends zum Teufel jagen. Die Varianten sind entsprechend komponiert.

 

Die Opern-Trilogie: Baal, Der Rattenfänger, Der Riese vom Steinfeld

 

Im Spektrum solcher Vergleiche findet sich wiederholt die Skepsis gegenüber der linearen Handlung und dem semantisch eindeutigen Text. Genau von dieser ästhetischen Haltung wendet sich Cerha in seiner großen Opern-Trilogie strikt ab: Baal (komponiert 1974-1980), Der Rattenfänger (1984-1986) und Der Riese vom Steinfeld (1997-1999). Wort und Wortbedeutung sind ihm unverzichtbar geworden, zumal er sich musikalisch am melodisch-rhythmischen Gefälle der Sprache orientiert. Die Vorbildwirkung von Leoš Janáčeks Sprachmelodien wird nicht geleugnet.  Man darf getrost diese drei Werke Cerhas begrifflich der Oper zuordnen, mit formalen Erneuerungen, dank derer die historischen Klischees der Gattung ausgeblendet sind. In allen drei Werken agieren die Hauptprotagonisten individuell im Terrain gesellschaftlicher Unangepasstheit, anhand von Themen, denen der aktuelle Hintergrund innewohnt. Stets geht es um das konfliktträchtige, folglich problematische Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und deren Verhalten zur Macht. 

Zu Baal, eine Literaturoper, Text von Bertolt Brecht: Baal kann und will nicht akzeptieren, was ihm die organisierte Gesellschaft als vernünftig scheinende Lebensbedingungen anbietet. Daher: Flucht in die innere Emigration, auf dem Weg ins Außenseitertum und in die Selbstvernichtung. Das Ausgesetztsein des Individuums, thematischer Hauptaspekt, kehrt in Der Rattenfänger und in Der Riese vom Steinfeld variiert wieder. Da wie dort ist soziales Ungleichgewicht der Auslösungsfaktor der Geschehnisse. In Der Rattenfänger (der Komponist musste Zuckmayers Schauspiel textlich stark kürzen) gibt es am Ende weder Sieger noch Verlierer, sondern Verfall und Auflösung, sowohl in der feudalen Oberschicht als auch in der ausgebeuteten Unterschicht. Am Ende steht ein Fragezeichen. Denkbar wäre ein Neubeginn als Utopie, eher ein aus der kargen Realität gewonnener. In welche Art von Zukunft die Kinder mit dem zwielichtigen, a priori im soziologischen Abseits stehenden Rattenfänger wegziehen, bleibt freilich offen. Der Riese vom Steinfeld hingegen, mit einem librettoähnlichen Text von Turrini, nimmt als reale Figur die Außenseiterposition nicht freiwillig auf sich. Sie wird ihm aufgezwungen. Zur Umwelt verhält er sich passiv, im gleichsam statischen Verharren.

Kompositionstechnisch ist jedes der drei Werke völlig eigenständig, in  jeweils andere Formen und Strukturen gefasst. Der rote Faden, der sich dennoch einstellen mag, liegt an Cerhas ausgeprägtem wie flexiblem Personalstil. Er manifestiert sich in vielen Details,  etwa in der Art der vokalen Stimmbehandlung, in der linearen Kontrapunktik, in der Arbeit mit Intervallproportionen, vor allem aber in der aus Kernzellen abgeleiteten, stets durchhörten und auch durchhörbaren Harmonik, die selbst in harten, quasi clusterhaften Ballungsmomenten nie aus dem organisch entfalteten Ablauf fällt. Dass all dem Skizzen von strengen, permutierenden Reihen-Prinzipien zugrunde liegen, aber fast nie Zwölftonreihen wie bei Schönberg, bleibt im Resultat unhörbar und soll es auch bleiben.  

Die Musik zu Baal verläuft in drei Schichten: 1) der Einzelmensch, 2) die Gesellschaft, 3) die Natur. Letztere, undurchschaubar, ist durch dichte, gleichsam stehende Tongeflechte gekennzeichnet, die Gesellschaft durch formelhafte Wiederholungen, das Individuum durch melodische Dominanz, vorrangig durch die formbildenden Balladen des Baal – jene von der Dirne Evelyn Roe birgt das Grundmaterial der ganzen Oper. Aus musikdramaturgischen Gründen sind, ähnlich in Bergs Wozzeck, autonome historische Musikformen eingesetzt, etwa Passacaglia, Fuge, weiters Tanzformen wie Reggae oder Foxtrott:

In Der Rattenfänger hält ein Grundmaterial aus sieben verschiedenen Tongruppen das ganze Werk zusammen, beispielsweise völlig tonalitätsfrei, aber auch pentatonisch usw. Letztlich entsteht daraus ein ineinandergreifend vernetztes System. Dieses Material erscheint einzeln, permutiert, gebündelt, verschränkt und kontrastierend, je nach musikdramaturgischer Anforderung. Nicht Leit-Motive, sondern kompositorische Leit-Elemente signalisieren bestimmte Situationen der Handlung. Wie öfters bei  Cerha, entfaltet sich die Musik nach Prinzipien des organischen Wachstums, zu vergleichen mit der Beobachtung, dass Pflanzen mit ähnlichen Basis-Strukturen unter verschiedenen Umweltbedingungen verschieden aussehen, und umgekehrt  verschieden strukturierte Gewächse unter verwandten Bedingungen ähnliche Formen ausbilden können. Es gibt übergreifende musikalische Konstellationen für die Interpretation der Gedanken einzelner Protagonisten, das heißt: die Musik sagt, was sich eine Person unausgesprochen denkt. Den einzelnen Figuren sind spezifische vokale Gestaltungen zugeordnet, außerdem bestimmte Instrumente, etwa das Sopransaxophon dem  Rattenfänger. Auch in diesem Werk findet man balladenhafte Interpolationen, wie das vom Rattenfänger gesungene Requiem für Rikke, ein Klagegesang.

Eingeschaltet ein kurzer Blick auf die zeitliche Nachbarschaft von Der Riese vom Steinfeld. Von 1977-2003 schuf Karl Heinz Stockhausen den Licht-Zyklus Die 7 Tage der Woche. Ein extremer Sonderfall, salopp gesagt: der Versuch der Neugeburt eines Gesamtkunstwerkes nach Wagner. Ein zweiter Sonderfall: Europeras I-V, …a circus of independent elements…  von John Cage (1985-91). Marginale Aus- oder Abschnitte bekannter historischer, tantiemenfreier Opern und der Einsatz zufällig unpassender Kostüme aus dem Fundus, das alles kombiniert mit – freilich geprobten – Spontanaktionen der Mitwirkenden, fügen sich zum mitunter witzigen Spektakel. Uraufführung einer integralen Version 2001 in Hannover. Der dritte Sonderfall: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, minimale Textreste nach Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci, Musik mit Bildern von Helmut Lachenmann (sein opus summum), Entstehungszeit 1975-97, uraufgeführt in Hamburg, danach mit Dauererfolg produziert in Stuttgart. Absolute Priorität hat die Musik, sie vermittelt die gesellschaftskritische Botschaft. Und, um noch einige zu erwähnen, Musik-Bühnenwerke, respektive Opern oder Klangraumtheater, von Olivier Messiaen (Saint Françoise d’Assise, 1983), Luigi Nono (Prometeo, 1984) Heinz Holliger (Schneewittchen, 1998), Salvadore Sciarrino (Luci mie tradici, 1998), Georg Friedrich Haas (Nacht, 1998), Luciano Berio (Cronaca del luogo, 1999), Brian Ferneyhough (Shadowtime, 1999-2003), Klaus Huber (Schwarzerde, 2001), Aribert Reimann (Bernarda Albas Haus, 2001) etc.

Cerhas Der Riese vom Steinfeld ist ein Stationen-Theater mit kontrastierenden Klangwelten, die je nach dramaturgischer Situation verknüpft werden. Also regiert keine generell verbindliche Grundidee. 

 

 

Außerdem haben die einzelnen Szenen durch spezifisches Orchesterkolorit jeweils eine eigene Aura. Jeder der Hauptprotagonisten verfügt entsprechend seines Charakters über eine eigene Tonwelt. Daher ist beispielsweise die Musik des Riesen flächig, statisch, geprägt von der Klangfarbenkombination tiefes Blech, Orgel, Vibraphon, Röhrenglocken, Solostreicher. Im Gegensatz dazu ist die Musik seines Umfeldes stets im dynamischen Fluss, in grotesken Episoden auch hektisch, oder drastisch aufgezäumt im Zirkus-Milieu. Allusionen an Walküre, preußische Militärmärsche fatale Nazi-Lieder und Kletzmermusik blitzen auf. Cerha gestattet sich auch interne, beziehungsreiche Komponistenspäßchen. Ein äußerer Rahmen, streng polymetrisch strukturiert, verklammert das disparate Innenleben des Werkes. Und dieses innere Gefüge gewinnt Halt durch die Kette der Legenden-Lieder des Riesen. Im Zentrum steht ein großes Liebesduett, das alles Tonmaterial des Riesen und seiner kleinen Partnerin zusammenfasst. Nonverbal, es gibt keinen Text, eine dramaturgisch zwingende Lösung, für Cerha Ausnahme: diese emotionelle Kulmination vermitteln unmissverständlich Vokalisen und Orchesterklang. Die Emotionalität in Cerhas Musik ist ja überhaupt etwas Besonderes. Sie aber als unangepasst zu bezeichnen, wäre verfehlt, denn in ihr liegt die Moden überdauernde Qualitätskonstante.

 

Der vorliegende Text ist die Druckfassung des Vortrags, den Lothar Knessl am 16.6.2011 im Rahmen des Symposiums "Friedrich Cerhas Bühnenschaffen" an der Donau Universität Krems hielt.