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2/2014 Shakespeare im zeitgenössischen Musiktheater
John Cage und die österreichische Avantgarde
ESSAY
Sabine Töfferl
studierte Kultur- und Sozialanthropologie,
Internat. Entwicklung sowie Musikwissenschaft, momentan PhD
Musikwissenschaft; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Archiv der Zeitgenossen.
Im Zusammenhang mit Avantgarde kommt sehr oft auch der Name John Cage vor – egal ob von Konzertprogrammen, generellen Informationstexten oder spezieller Fachliteratur die Rede ist. Was aber hat der Komponist mit der österreichischen Avantgarde zu tun? Gibt es Verbindungen, und welche Auswirkungen hatten seine Werke auf die österreichische Musikgeschichte? Beziehungsweise: Gab es Wechselwirkungen? Diesen Fragen möchte ich in meinem Beitrag nachgehen.
Im Jahr 2012 stolpert man allerorts über John-Cage-Schwerpunkte: Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Performances werden aufgrund des (theoretisch stattfindenden) 100. Geburtstages des Künstlers, Komponisten, Musikers, … [die Liste kann wohl sehr lange fortgesetzt werden] veranstaltet. Kaum jemand, der nicht irgendetwas zum Thema besucht, und selten jemand, dem der Name John Cage nicht zumindest "etwas sagt". In Österreich war er lange Jahre ein eher Unbekannter und zu großen Teilen auch Ungewollter, und seine Werke – so sie überhaupt zu Gehör gebracht wurden – waren für das damalige Publikum aufregend genug, um bei deren Aufführungen für Skandale zu sorgen. Ich möchte nun im Besonderen auf die österreichische Erstaufführung des Klavierkonzertes von John Cage eingehen, die am 19.11.1959 im Wiener Konzerthaus durch das Ensemble "die reihe" unter Friedrich Cerha stattfand.
Auch in diesem Zusammenhang ist in den Zeitungsberichten von Avantgarde die Rede, in einem sogar von "extreme[r] Musikavantgarde".1 John Cage wird außerdem als "Oberhaupt dieser überspitzten Moderne"2 bezeichnet. Was nach damaliger Meinung an dem Stück und an ihm so "extrem" ist, kann man sich anhand der Pressekritiken einigermaßen ausmalen. Dazu aber später – zuerst noch kurz zum Werk:
Das Klavierkonzert ist graphisch notiert und gewährt den Ausführenden große Freiräume, beispielsweise was die Dauer angeht. Im Falle des Wiener Konzertes wurde es zwei Mal aufgeführt – die erste Darbietung dauerte ungefähr fünf Minuten, die zweite 203. Die Instrumente werden dabei nicht so gespielt, wie es "normal" wäre, sondern es werden ihnen mit verschiedenen Methoden ganz neue Klänge entlockt. Hinzu kommt, dass auch Alltagsgegenstände als Instrumente verwendet werden – so etwa wurden damals ein Deckel von einem Topf und ein Schlüsselbund in der Hosentasche zum Klingen gebracht4. Die MusikerInnen agieren nicht nur auf der Bühne, sondern sind auch im Publikumsraum verstreut, und der Dirigent gibt nicht den Takt, sondern die Zeit an – die Arme übernehmen gewissermaßen die Funktion eines Uhrzeigers.
Was die Medienrezeption dieses Konzertes betrifft, ist sie durchwegs eher negativ. Man fragt sich, was so ein Stück denn im Mozartsaal verloren hätte, und spricht von der "Entweihung der nach dem großen Musikgenius benannten Kunststätte"5. Außerdem konnte man gar nicht verstehen, dass "absurde Klangwirkungen als Musik ausgegeben wurden."6 Kritisiert wurde auch, dass in einem „Klavierkonzert“ benannten Werk das Klavier eher selten zu hören war.7 Dieses wurde auch des Öfteren bemitleidet, da es präpariert und vom Pianisten David Tudor angeblich malträtiert wurde:
"[Es] wird mit der Handfläche, mit dem ganzen Unterarm oder mit einem Hammer bearbeitet: seine Saiten werden gezupft oder geschlagen, mit dem Klavierdeckel wird geknallt – ganz wie es dem ‚Interpreten’ einfällt. Und wenn ihm nichts einfällt, dann tut er eben nichts. David Tudor war da der Hauptakteur: sein Klavierdeckel-Vibrato dürfte Schule machen. […] PS. Der Bösendorfer im Mozart-Saal hat allen Demolierungsversuchen widerstanden: ein gutes Tier ist das Klavier."8
Interessant ist auch der Kommentar von Otto B[?]l: "Herr David Tudor stochert in seinem Klavier herum, als sei es ein kariöses Gebiß nach einer Mahlzeit, während seine Kollegen versuchen, aus einem Krixelkraxel von Notation – es sieht wie Zwirnsknäuel aus – spontane Inspirationen zu empfangen und diese in Töne umzuwandeln."9
In der Arbeiterzeitung wird dem Konzert die Zuordnung zur Kunstform Musik abgesprochen: "Das Interesse für die Veranstaltung war außerordentlich groß […], ihre Beurteilung fällt aber kaum noch in das Ressort eines Musikkritikers."10 Dies wird folgendermaßen begründet: "Mit Musik oder mit Kunst überhaupt haben diese Produktionen nichts mehr zu tun, ja man kann nicht einmal von einem organisierten Chaos sprechen, da ja die Autoren selbst jede Bindung zwischen den Tönen, den ‚Klebstoff’, wie sie es nennen, ablehnen."11 Musik wäre demnach also nur dann vorhanden, wenn es klar erkennbare Zusammenhänge zwischen den Tönen gäbe – andernfalls könne nicht kontrolliert werden, ob die Darbietung qualitativ gut oder schlecht sei. Dem Stück wird also das hemmungslose Ausleben eines "kindische[n] Spieltrieb[es]" und der "Freude am ausgiebigen Lärmen"12 attestiert. Das ist wohl unter anderem ein Grund dafür, warum "selbst die Ausführenden nicht mehr ernst bleiben konnten."13
Diese Ausführenden wurden in demselben Pressebericht sehr gelobt: "Der Applaus als Zeichen aufrichtiger Anerkennung gebührte nur den Mitgliedern des Ensembles ‚Die Reihe’ sowie der jungen Sängerin Edith Urbanczyk, die an diesem Abend recht undankbare Aufgaben zu bewältigen hatten."14 Der Autor sah die MusikerInnen also als unfreiwillige TeilnehmerInnen an dem Geschehen an. Ob das wirklich der Fall war, lässt sich aus den Rezeptionsdokumenten leider nicht herauslesen, sollte aber sicherlich kritisch hinterfragt und gegebenenfalls auch bezweifelt werden.
Marcel Rubin jedenfalls fand, dass "die Objekte dieser Kritik […] keinen Tupf Druckerschwärze wert"15 seien. Und im Wiener Samstag vom 5.12.1959 wünschte man John Cage in die Gefangenschaft:
"Keiner unterzieht sich der Mühe und prüft einmal nach, was solch ein ‚Ultramoderner’, wie eben der oben zitierte John Cage – zu deutsch [sic!] Johann Käfig – in den er auch hineingehört – schon Positives geleistet hat. Es handelt sich meist um Leute, die von Kontrapunkt und Instrumentation nicht die blasseste Ahnung haben. Aber sie müssen ein Klavierkonzert schreiben, denn sie sind dazu "berufen"!"16
Außerdem wurde dieser Abend als Indiz dafür wahrgenommen, dass es mit der Musikstadt Wien bergab ging: "Es geht einfach nicht an, daß in der Musikstadt Wien, die ohnehin immer mehr an Niveau verliert, derartige Vorführungen, die nicht einmal als Experimente bezeichnet werden können, vor einem zahlenden Publikum abgewickelt werden."17 Das Publikum hätte nicht einmal gewusst, "wohin es seine Ohren richten sollte."18, da die MusikerInnen im ganzen Raum verteilt waren und sich nicht nur auf der Bühne aufhielten.
Was vielfach kritisiert und auch als eine mögliche Ursache für den Skandal beim Cage-Klavierkonzert angeführt wurde, waren die vielen Pausen, die es in dem Stück gibt. Der Komponist ist ja bekannt dafür, gerne mit Stille experimentiert zu haben, und hat sie auch hier eingesetzt. Ein paar Kommentare möchte ich hier zitieren: "[D]as scheint ja überhaupt die Zukunft dieser ‚Raum’-Musikanten und Elektronischen zu sein: die Pausen werden allmählich so lang werden, dass die Musiker auf Töne überhaupt verzichten können."19 "Länger währende Stille wird als unerträgliche Spannung empfunden. Man muß sich Luft machen, und das geschieht durch Lärm. Da in unserem Konzert die Pausen vorherrschten, blieben die Reaktionen nicht aus."20 "Diese lang anhaltende Stille erzeugte unerträgliche Spannungen, und das Publikum machte sich Luft."21
In einem Artikel wird ganz am Schluss festgestellt, dass man wohl in einer sehr seltsamen Zeit lebe, "in der man in Wien derlei Darbietungen mit einer anderen Straßenbahnlinie als mit dem Siebenundvierziger erreicht"22. Die Straßenbahnlinie 47 führte damals nach Steinhof, wo sich auch heute noch ein psychiatrisches Krankenhaus befindet – mit diesem Hintergrundwissen kann man auch genau verstehen, worauf der Autor hinaus wollte: Abgesehen davon, dass diese Äußerung heute als politisch unkorrekt kritisiert würde, hat er diese Musik wohl als von psychisch Kranken erdacht angesehen.
Ganz am Ende meiner Ausführungen über die Reaktion auf Cages Klavierkonzert in Wien möchte ich ein Zitat von Franz Endler stellen und dieses auch bewusst unkommentiert lassen: "Leider kann ich das einzige Wort, das ich als gerechte und durchaus ausreichende Kritik an ihrem Tun empfinde, nicht drucken lassen. Ich bin aber gern bereit, es jedem Interessenten zu sagen."23
Die Frage, die sich für mich nach dem Lesen aller genannter Rezeptionsdokumente stellte, war: Ist es denn notwendig, dass Musik im Konzertsaal immer humorlos und geordnet ablaufen muss? Anscheinend sorgte es damals für große Irritationen, wenn dem nicht so war. Heute ist das Publikum wohl etwas aufgeschlossener für humoristische und unkonventionelle Anlagen eines Werkes, und auch KomponistInnen entscheiden sich bewusst dafür, die ZuhörerInnen zum Lachen zu bringen24, wenngleich Skandale auch hier nicht immer von Vornherein ausgeschlossen werden können.
Machen wir jetzt schnell noch einen zeitlichen Sprung, ins Jahr 2004: Damals widmete Wien Modern, das Festival für Musik der Gegenwart, John Cage eine Retrospektive. Mittlerweile war er im Musikleben fest verankert und hoch geschätzt, es stellte also nicht mehr eine solch große Provokation dar, seine Werke aufzuführen. Es gab ein mehrtägiges John Cage Filmfestival, eine John Cage Nacht, Texte von ihm wurden rezitiert, und es waren einige seiner Werke zu hören. Kurzum, während der Zeitspanne von Wien Modern konnte man beinahe jeden Tag Cage in Form seiner Werke, Texte und einiger Filme begegnen.
In seinem autobiographischen Statement im Programmbuch von Wien Modern 2004 schreibt Cage etwas, das man auch als Replik zu den Kritiken von 1959 auffassen könnte, wenngleich das sicherlich nicht die ursprüngliche Absicht war:
"Wir leben in einer Zeit, in der sich für viele Menschen das Bewusstsein von dem, was für sie Musik ist oder sein könnte, geändert hat. Etwas, das nicht wie ein Mensch spricht oder redet, das nicht seine Definition im Lexikon oder seine Theorie in den Schulen kennt, etwas, das sich nur durch das Faktum seiner Schwingungen ausdrückt. Menschen, die auf den schieren Schwingungsvorgang Acht haben, nicht in Bezug zu einer fixierten idealen Aufführung, sondern jedes Mal gespannt darauf, wie es sich diesmal ereignet, nicht notwendigerweise zweimal in der gleichen Weise. Eine Musik, die den Hörer zu dem Augenblick trägt, wo er ist."25
Man kann daran ablesen, dass sich das Publikum seit 1959 (der Text wurde im Jahr 1989 verfasst) gewandelt hatte, was angesichts der dreißig Jahre, die dazwischen liegen, sehr plausibel klingt. Auch in Österreich war er nun also geschätzt und gefeiert, was nicht zuletzt die Wien-Modern-Retrospektive zeigt. Die Texte, die sich im Programmbuch finden, loben Cage und weisen ihn als einen grundlegenden Erneuerer der Musik aus, berichten von seinen Verdiensten. Man kann also davon ausgehen dass die "extreme" Avantgarde mittlerweile zur "Normalität" geworden war und darf gespannt sein, was folgt.
- P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- Marcel Rubin: Versuchte Jugendverdummung. Zeitungsartikel.
- Zeitungsausschnitt: „Wenn das der Mozart hätt’ erleben müssen…“
- Zeitungsausschnitt: „Wenn das der Mozart hätt’ erleben müssen…“
- Dr. Norbert Tschulik in Tiroler Tageszeitung: Wohlklänge und Mißklänge. In: Tiroler Tageszeitung, 7.12.1959, S. 5.
- Vgl. Dr. Norbert Tschulik: Wohlklänge und Mißklänge. In: Tiroler Tageszeitung, 7.12.1959, S. 5.
- Rudolf Weishappel: Ein gutes Tier ist das Klavier. Gestern im Mozartsaal: III. Konzert der „reihe“ leider fast ein Skandal. In: Kurier, 20.11.1959.
- Otto B[?]l: Avantgarde auf fossilen Spuren. In: NÖ, 22.10.1959.
- P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- beide Zitate: P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- P-er: Moderne Musiker müssen miauen… In: Arbeiterzeitung.
- Marcel Rubin: Versuchte Jugendverdummung. Zeitungsartikel.
- Das Reindl als Musikinstrument: Johann Käfig ließ den Wecker rasseln. In: Wiener Samstag, 5.12.1959.
- Das Reindl als Musikinstrument: Johann Käfig ließ den Wecker rasseln. In: Wiener Samstag, 5.12.1959.
- Das Reindl als Musikinstrument: Johann Käfig ließ den Wecker rasseln. In: Wiener Samstag, 5.12.1959.
- Otto B[?]l: Avantgarde auf fossilen Spuren. In: NÖ, 22.10.1959.
- Lothar Knessl: Tumult bei Schönberg und Cage. Pfiffe und Lärm bei zwei Klavierabenden. In: Salzburger Nachrichten.
- Tumulte im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses. In: Neues Österreich, 21.11.1959.
- Ach, wie so lächerlich… Zeitungsartikel.
- Franz Endler: Ein Wort nur. Zeitungsartikel, 21.11.1959.
- Manuela Kerer, der gerade ein Schwerpunkt auf terz gewidmet ist, baut bewusst Humor in ihre Werke ein.
- John Cage (1989): Ein autobiographisches Statement. In: Bernd Odo Polzer, Thomas Schäfer (Hg., 2004): Wien Modern Katalog. Saarbrücken: Pfau Verlag. S. 13.