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2/2014 Shakespeare im zeitgenössischen Musiktheater
John Cage und die Freilegung theatraler Potentiale.
Von 4‘33‘‘ zum szenischen Konzert von heute.
ESSAY
Andreas Karl
Studium Musikwissenschaft, Publizistik, u.a., Labelmanager bei KAIROS, Referent des Intendanten beim "Arcana Festival für Neue Musik 2010", diverse Assistenztätigkeiten in bildender Kunst, Performance, Konzert und Musiktheater. Texte zu Neuer Musik.
"Where do we go from here? Towards theatre. That art more than music resembles nature. We have eyes as well as ears, and it is our business while we are alive to use them." (John Cage)1
Es scheint als würde kaum eine Figur so viele AutorInnen angeregt haben, sich ‚Gedanken zu machen‘, wie John Cage. Und ‚AutorInnen‘ inkludiert hier mehr als nur die Musikwissenschaft und den Musikjournalismus. Es meint KuratorInnen, KomponistInnen, IntendantInnen und vor allem InterpretInnen, die von Cage in einem kaum vergleichbaren Ausmaß gefordert sind, das Stück ‚neu zu schreiben‘ und sich ‚Gedanken zu machen‘. Wohl einer der meistbedienten Gedanken ist der des Einflusses, den Cage auf die Kunst des 20. Jahrhunderts haben soll und auch ganz klar hat. So wurde er bereits wiederholt mit dem Titel ‚einflussreichster Künstler des 20. Jahrhunderts‘ geadelt und gerade in Jubiläumsjahren widmen sich schließlich unzählige Publikationen und Ausstellung (scheinbar mehr als Konzerte) eben besonders seiner Rezeption durch Andere. Wenngleich das Thema ‚Einfluss auf …‘ bei John Cage mittlerweile scheinbar mehr Beschäftigung erfährt, als sein eigenes Werk, so verweist diese Tatsache doch auch auf die immer noch nicht gestillte Faszination für seine Ideen. Auch hat seine Welt, vor allem für die Kunst und Musikvermittlungspraxis, noch viel Entdeckungspotential zu bieten. Er wird also weiterhin präsent und aktuell bleiben. Und damit auch das Bedürfnis weitere spannende Verbindungen und ‚Einflüsse‘ aufzudecken. Im Sinne Christian Wolffs soll sich nun auch dieser kurze Essay spezifischen Einflussnahmen von John Cage widmen:
"It seems to me that no one (except a complete idiot) who had met Cage or encountered his work could fail to be affected by him in some way. It’s just unthinkable. So his influence is there and it will be, no matter what." (Wolff)2
Schon wieder 4‘33‘‘.
Weil selbst bereits exemplarisch zu einer Versinnbildlichung für das Denken über Cage geworden, soll auch hier sein meist diskutiertes und wohl berühmtestes Werk - 4‘33‘‘ (1952) - Ausgangspunkt für das Aufsuchen neuer Einflüsse und Verbindungen sein. Frank Hilbergs Äußerung – "Zu diesem Stück gibt es (…) so viele Deutungen, wie es Personen gibt"(Hilberg)3 – kann dabei durchaus als Motto gesehen werden. Im Titel schon angedeutet beschäftigt sich der Text mit dem Unterfangen, John Cage als Anstoßgeber für eine Tendenz zur Freilegung von theatralem bzw. szenischem Potential in der Musik zu etablieren. Für eine solche These könnten neben 4‘33‘‘ selbstverständlich auch eine ganze Reihe anderer Werke herangezogen werden. So etwa seine Fluxus-nahen Stücke, wie Musicirus (1967), sein Water Walk (1960), die Water Music (1952), seine Songbooks (1970), das nahezu klassisch theatrale An Alphabet (1982) oder das theatre piece (1960), doch ist es gerade die Radikalität und die Direktheit der Ikone 4‘33‘‘, die es zum idealen Vergleichsobjekt macht - als Ursprung und Kulminationspunkt in einem. Es zeigt pointiert die Möglichkeiten des theatralen Potentials von Musik und formuliert gleichzeitig seine konsequenteste und einfachste Umsetzung – dabei nicht ganz ohne Humor. Schon in der Virtuosenverehrung – sei es von Paganini, dem frühen Liszt oder, um aktuell zu bleiben, David Garrett – verlagert sich die Aufmerksamkeit immer mehr von der Musik zum Interpretierenden als Person bzw. Figur auf der Bühne. Die Bühne selbst wird immer wichtiger und so auch die ‚Inszenierung‘ der Aufführung. Mit ihren aufwendigen, die ganze Aufmerksamkeit einnehmenden Bühnenshows (und Musikvideos) auf der anderen Seite und den nahezu beliebig austauschbaren Songs auf der anderen (ProduzentInnen bieten denselben Song oft mehreren KünstlerInnen an), sind Verkaufserfolge wie Justin Bieber oder Rihanna (uvm.) ein weiterer Höhepunkt dieses Phänomens. 4‘33‘‘ besteht schließlich, gleich einem Extrakt, nur mehr aus Inszenierung, vollkommen frei von Musik (im traditionellen Sinn). Das Publikum starrt gebannt auf eine/n PianistIn (oder ein Orchester, eine Gitarristin oder einen Death Metal-Schlagzeuger – Youtube ist voll von 4‘33‘‘ Interpretationen) und verfolgt jede noch so kleine Regung. Kennt man nun Ausgangspunkt und Endpunkt einer Entwicklung - hier fallen sie in einem Stück zusammen - so soll es leicht möglich sein, Zwischenstufen aufzudecken.
‚Analogisierung zweier Künste‘ und das instrumentale Theater von Mauricio Kagel.
Dass Musik, ob absolut, Lied oder Sinfonik, immer auch eine Performance ist, also eine dramatische und theatrale Komponente aufweist, wurde schon vor Cage diskutiert. Hierzu gibt es Publikationen, die vom "Madrigale rappresentativo", über französische Motetten, Bach-Kantaten, Oratorien bis zur romantische Sinfonik und ihren Tondichtungen reichen. Es ist jedoch eine besondere Verstärkung in der Ausprägung dieser lange latent vorhandenen Tendenz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festzustellen, die der Theatertheoretiker David Roesner "Analogisierung zweier Künste"4 nennt. Es gibt eine Reihe weiterer Zugänge und Begriffsbildungen, aus der Theater- wie aus der Musikperspektive, allen gemein ist jedoch das Erkennen einer Annäherung von Theater an Musik und umgekehrt. Der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi, der sich ebenfalls mit dieser Annäherung beschäftigt, schreibt:
"Tendenzen der Neuen Musik und des gegenwärtigen Theaters lassen etwa die kategorische Unterscheidung zwischen einer rein gesanglichen oder instrumentalen Aufführung von Musik und andererseits einer auf die Schauspielkunst beschränkten Theatralität zweifelhaft erscheinen. Konzerte spielen immer wieder mit performativen Elementen, Theateraufführungen verweisen häufig auf ihren Konzertcharakter, als Zusammenklang von Stimmen, Musik und Geräuschen." (Primavesi)5
Da in Mauricio Kagels ‚instrumentalem Theater‘ (Bezeichnung von Kagel) diese Annäherung als Prozess nahezu mustergültig beobachtet werden kann, soll eben jenes kurz vorgestellt werden. Kagel sieht sich selbst als Komponist, der das Wort ‚componere‘, also ‚zusammensetzen‘ wörtlich nimmt. So komponiert Kagel mit musikalischem (also klingendem) und nicht musikalischem Material (also nicht klingendem): "Sie können mit Schauspielern, mit Tassen, Tischen, Omnibussen und Oboen komponieren (...)" (Kagel)6. Ein Kompositionsbegriff, der in den Werken Kagels die unterschiedlichsten Realisierungen erfährt, am konsequentesten aber wohl in einem dreiteiligen Zyklus aus dem Jahr 1965: Pas de cinq – Wandelszene für 5 Schauspieler, Camera obscura – Chromatisches Spiel für Lichtquellen mit Darstellern und Die Himmelsmechanik – Komposition mit Bühnenbildern. In dieser Werkreihe erarbeitet Kagel eine Musikalisierung von Theaterelementen, das heißt theatertypische Elemente oder Aktionen werden aufgrund musikalischer Prinzipien gestaltet. So stellte er schon früh fest, die Grenzen zwischen Musik und Theater seien fließend, die Trennung sei nur künstlich durch personelle Zuordnung geschehen7 (und wird so aufrecht erhalten). Ein Ansatz, der direkt zur Entstehung seines Konzepts des ‚instrumentalen Theater‘ geführt hat. Instrumentales Theater bedeutet für Kagel ein bewusstes Arbeiten mit dem szenischen Aktionspotential der MusikerInnen und dem Produzieren von Klängen, aber auch die Möglichkeiten darüber hinaus auf einer (Konzert-)Bühne zu agieren. Kagel macht den Akt des Musikmachens explizit sichtbar, indem er Irritationen für das Publikum einbaut, ein ‚Sichtbarmachen‘, das sich durch sein ganzes Schaffen zieht und auch für Cage beobachtbar ist. Er erweitert also den funktional-konventionellen Handlungsablauf eines Konzertes durch szenische Anweisungen für die MusikerInnen8. Es entsteht ein neues verändertes Rollenbild für die Personen auf der Bühne – sie sind nicht ‚nur‘ mehr MusikerInnen, sondern auch SchauspielerInnen bzw. PerformerInnen. Oftmals finden sich nur kleine, unscheinbare Anweisungen, wie ‚nach oben schauen‘, ‚abrupt aufhören‘ wie in Sonant (1960), oder vokal erzeugte Geräusche oder Worte in einem ursprünglich rein instrumental konzipierten Setting. Eine subtile Skurrilität entsteht, wenn die szenischen Anweisungen für die MusikerInnen wiederum selbst ein Agieren mit dem Instrument, allerdings in übersteigerter oder leicht entrückter Form, verlangen. Auch hier finden sich Gemeinsamkeiten mit Arbeiten von Cage, der beispielsweise durch die Präparierung eines Flügels die Aufmerksamkeit stärker auf den Spielprozess bzw. die Art der Klangerzeugung selbst lenkt. Ungewohntes, sei es im Konzertsaal oder auf einer Theaterbühne, erzeugt stets theatrales Potential, da eine unabsehbare Auflösung von vormals klaren Rollenbildern initiiert wird und die Aufmerksamkeit sich von Klang auf Aktion verlagert.
In einem Kommentar Kagels zu seinem Streichquartett (1965/67) liest man, dass die Szene die Musik "sabotieren" soll.9 Die Szene ist also gleichzeitig Teil des Stücks, hat aber den Charakter eines von außen hinzukommenden Elements. Hört man etwa nur die Musik von Zwei-Mann-Orchester (1973) auf einem Tonträger, so wird man mit sehr kargen, oft spröden Klängen konfrontiert, ist man jedoch im Konzertsaal so wird der Eindruck der Musik durch das teilweise sehr witzige Treiben und die absurd wirkenden Aktionen stark verändert. Ganz ähnliches kann man auch bei Cage’s Water Walk (1960) feststellen. Beide Komponisten, Cage und Kagel, scheinen Adornos bekannte Formulierung: "Kunstwerke synthetisieren unvereinbare, unidentische, aneinander sich reibende Momente" (Adorno)10 nahezu wörtlich umgesetzt zu haben, als hätten sie darin eine Aufforderung gesehen.
Ein Schritt weiter in Richtung Theater. Das ‚szenische Konzert‘ von Heiner Goebbels.
Schreitet man historisch etwas fort und versucht den konsequent genutzten theatralen Potentialen in der Musik zu folgen, so kann man nicht umhin, sich mit Heiner Goebbels zu beschäftigten. Die theoretischen Konzepte und Arbeiten Goebbels zeigen eine vielschichtige Verwandtschaft zu Kagels instrumentalem Theater aber auch zu Werk und Arbeitsweise von John Cage. Goebbels nennt viele seiner Theaterarbeiten ‚szenische Konzerte‘. Wie Kagel, und im übertragenen Sinn auch Cage, tritt Goebbels als Komponist, Regisseur, Bühnenbildner und Lichtgestalter auf und komponiert klingendes Material wie nicht klingendes Material, allerdings in einem meist sehr offenem Prozess. Nicht unbedingt immer demokratisch, aber doch seiner politischen Sozialisation entsprechend. Kagel hingegen komponierte jedes Element akribisch aus.
Goebbels versucht bei der Erarbeitung neuer Ideen nicht in alten, traditionellen Systemen zu denken, sondern ist an den Schnittmengen zu anderen Bereichen interessiert. Neues entsteht "nicht mehr innerhalb von Systemen, sondern zwischen den Systemen" (Goebbels)11 (wie etwa der erweiterte Serialismus von Karlheinz Stockhausen). Eine Tendenz, sich in den Grenzbereichen zu bewegen, die frappant an Cage erinnert. So versucht er auch gar nicht erst Neue Formen zu schaffen, sondern Bestehendes neu zu kombinieren und auch nebeneinander für sich bestehen zu lassen. Eine Kombination von heterogenem Material, ähnlich dem aktuellen Tanztheater oder dem postdramatischen Theater, in der die einzelnen Elemente sich eben nicht im Ganzen auflösen. So spricht er sich in seiner Schrift Gegen das Gesamtkunstwerk12 für eine produktive "Kollision der Künste", entgegen der wagnerischen Vernichtung der Einzelkünste in einem Gesamtkunstwerk, aus. Die Einzelkünste sollen in seinem Musiktheaterwerk in einem "wechselseitig sich ablösenden, in einem kontinuierlichen Schwebezustand"(Goebbels)13 präsent gehalten werden und diese ‚Polyphonie‘ der Künste wird für ihn schließlich zum kompositionsleitenden Diktum. Dem Bühnenensemble werden Aufgaben gestellt, die sie auf der Bühne ausführen sollen. Aufgaben, die nicht innerhalb einer klassischen Rollenverteilung (MusikerIn einerseits, SchaupielerIn andererseits) durchführbar sind und Ungewohntes erfordern. So werden auch hier die ‚unsichtbaren‘ MusikerInnen sichtbar gemacht, indem sie aus dem Orchestergraben auf die Bühne geholt werden und zu PerformerInnen werden, die mit den SchauspielerInnen (oder auch ganz ohne) auf der Bühne agieren. Bezeichnend für diese Arbeitsweise ist auch die intensive Zusammenarbeit mit den Aufführenden und die Anpassung des Stücks an deren individuelle Fähigkeiten.
Ähnlich der Öffnung des Entstehungsprozesses gegenüber den InterpretInnen ist Goebbels sehr freier Umgang mit Texten, neuen Klangkörpern und Elementen aus anderen Kulturen. Helga Finter nennt das Musiktheater von Goebbels "eine spezifisch europäische Antwort auf die Globalisierung" (Finter)14, ohne jedoch dabei einen kolonialen Exotismus zu bedienen. Sie sieht eine Offenheit gegenüber Anderem und nicht Gewohntem in seinen Werken, die sie als "Moral der Form" bezeichnet. Von ähnlicher Natur ist die Aneignung asiatischer Philosophie und deren Transformation in musikalische Konzepte bei Cage. Nicht die Lust an der Inspiration durch Exotisches, sondern die konsequente Integration von Neuem zeichnet ihn aus. Dies gilt auch für die Interpretierenden, die durch ungewohnte Aufgaben hin zu einer Entdeckung des jeweils anderen Metiers geführt werden. Dies spiegelt sich auch stark in der musikalischen Konzeption seiner Werke wieder. ‚Fremdes‘ Material steht gleichwertig neben selbst komponiertem Material, Bandeinspielungen und Improvisation. Ein Konzept, das an Cages Verständnis von ‚Sound‘ als Musik erinnert (Jeder Klang ist Musik).
Wieder ein Schritt zurück. Die ‚Drammaturgie‘ von Lucia Ronchetti und die ‚Bühnenmusiken‘ von Enno Poppe.
Lucia Ronchetti geht wieder einen Schritt zurück und entfernt sich scheinbar von den szenischen Elementen des Theaters. Das Theatrale, das ihren ‚Dramaturgia‘-Stücken (sie übersetzt es auch mit ‚szenisches Konzert‘ bzw. ‚staged concert‘) zugrunde liegt, wird zurücktransformiert in Musik. Hombre de mucha gravedad (2002) etwa ist eine szenische Musikalisierung von Velázquez‘ Las Meninas (1656), in der die Figuren des Gemäldes durch ein Doppelquartett aus Streichern und Stimmen zu neuem Leben erwachen. Dabei gibt es kein klassisch ablaufendes Narrativ, vielmehr frei, assoziative Schilderungen der Welt des Hofes von Philipp IV, basierend auf Zeilen aus spanischer Renaissance Literatur. Konkrete szenische Anweisungen finden sich im Stück kaum – alles Szenische ist in die Musik gewandert, die voller Gesten ist. Mit ‚Gesten‘ sind zum einen die Kommentare gemeint, die durch die Verschränkung von Texten und Musik und Text entstehen. So ist einzelnen Figuren, neben der Vokalstimme, auch eine Instrumentalstimme zugeordnet, die manchmal nur begleitet oder verstärkt, manchmal aber auch eine eigene Meinung vertritt. Dabei entstehen zynische, tragische, spielerische Momente, oftmals begleitet von groteskem Humor. Zum Anderen ist ihre Musiksprache voller bildhafter Anklänge, voller Imitationen von Bewegungen und überzeichneter Charaktere. Ihre Musik ist manchmal hoch beweglich und dynamisch, hinkt rhythmisch manchmal hinten nach oder ist schelmisch und hysterisch – so wie ihre Figuren. Die Musik selbst wird durch eben jene Gestik zur Bühne und zu ihrer szenischen Umsetzung zugleich - "Theater aus dem Geist der Musik"15. Wirkt dieses zwar auf den ersten Blick wie eine Reduktion bzw. ein Rückzug der musiktheatralen Mittel in die Musik, so sind die ästhetischen und konzeptionellen Erweiterungen unverkennbar. Reduktion und Erweiterung in einem. In diesem Punkt treffen sich Lucia Ronchettis ‚Drammaturgie‘ wieder mit unserem Ausgangspunkt - 4‘33‘‘.
Weniger radikal, doch derselben Idee folgenden, sind die Bühnenwerke von Enno Poppe. So nennt er Arbeit Nahrung Wohnung (2008) im Untertitel ‚Bühnenmusik‘ (für 14 Herren). Ein bewusst offener, aber dennoch bildhafter Begriff, der auch für Stücke von John Cage passend erscheint. Eine Bühnenmusik ist dieses Stück auch insofern, als die Bühne, Cage‘s Water Walk (1960) ähnlich, zu einer klingenden Umgebung wird. MusikerInnen und SängerInnen agieren gleichberechtigt szenisch nebeneinander. Es gibt keine klare Trennung zwischen Klangerzeugung und szenischem Handeln. Klang wird so Teil der Handlung. Gemeinsam mit gewöhnlichen Instrumenten (vor allem Keyboards) nutzt das (SchauspielerInnen/SängerInnen-)Ensemble die unterschiedlichsten Requisiten zur perkussiven Klangerzeugung: Ölkanister, Küchenreiben oder den Klang von Kreide an der Tafel. Komposition und Inszenierung sind untrennbar ineinander verkettet.
Für die hier beschriebenen musiktheatralischen Formen setzt sich in den letzten Jahren immer mehr der Begriff des ‚imaginären Theaters‘ durch16. Gemeint ist dabei die Rücknahme der szenischen Handlung in die Musik (im Gegensatz zur Annäherung), also etwa den ‚Schritt zurück‘, den Poppe und vor allem Ronchetti konsequent verfolgen. Als ein mögliches, sehr bildhaft konkretes, Beispiel führt Matthias Rebstock Kagels Sonant (1960) an, bei dem die theatrale Handlung durch die komplexe Partitur und dem Aufwand zu deren Realisierung entsteht. So finden sich in Pièce touchée, pièce jouée aus Sonant imaginäre Instrumentalparts, also notierter Notentext, der quasi pantomimisch gemimt werden soll. Die MusikerInnen sollen die nötigen Bewegungen durchführen, die zur Realisierung des Notentextes notwendig wären, ohne jedoch ihre Instrumente dafür zu benutzen. Die sehr komplexen, körperlich sehr fordernden Spielanweisungen führen zu einer sichtlich hohen Geschäftigkeit und zu komplexer Koordination untereinander. Wie bei Ronchetti sind es auch hier ‚Gesten‘, die das immanente Theater in der Musik freilegen.
… und so wurde es zum selbstverständlichen Bestandteil der Sprache.
"I love the theater. In fact, I used to think when we were so close together - Earle Brown, Morton Feldman, Christian Wolff, David Tudor, myself - I used to think that the thing that distinguished my work from theirs was that mine was theatrical. I didn’t think of Morty’s work as being theatrical. It seemed to me to be more, oh, you might say, lyrical. . . .And Christian’s work seemed to me more musical. . . . whereas I seemed to be involved in theater. What could be more theatrical than the silent pieces - somebody comes on the stage and does absolutely nothing." (John Cage)17
Theater oder besser Theatrales ist in beinahe allen Werken von Cage zu finden. Und sei es nur in sehr subtilem Ausmaß. Der Einfluss, den Cage auf die KomponistInnen nach ihm hinterlassen hat, hat sich längst verselbständigt und ist nicht mehr an ihn selbst gebunden, noch an konkrete Werke. Die von ihm nutzbar und sichtbar gemachten szenischen Potentiale der lange unsichtbar gehaltenen MusikerInnen sind zu einem fixen Bestandteil der Möglichkeiten geworden, auf die Musiktheater-KomponistInnen heute zurückgreifen können. Cage hat die Musiktheater-Sprache substantiell erweitert und uns neue Möglichkeiten hinterlassen. So sind die hier kurz vorgestellten Werke, Konzepte und Ästhetiken voller Gemeinsamkeiten mit Cage, die über einen spezifischen, bewussten oder epigonenhaften Bezug hinausgehen. Der Topos, dass nach Cage alles anders war, und man sich seinem Einfluss nicht entziehen kann, wurde in den letzten Jahrzehnten schon ausführlich bedient und soll hier keinesfalls noch weiter ausgeführt werden, dennoch ist es überraschend, wie viel ‚Cage‘ man in der heute aktuellen Musik immer noch finden kann. Cage hinterlässt seine Spuren - auch abseits von Aleatorik und der Affinität zu Stille - insbesondere in der theaternahen Musik. Wobei sich Cage übrigens vom klassischen Theater selbst, wie er es damals erlebt hatte, enttäuscht zeigte. Wie nicht anders zu erwarten, entziehen sich auch seine Werke für die Opernbühne – die Europeras 1 und 2 (1985/87), einem klassischen Theater bzw. Operngestus. In einer Podiumsdiskussion (2001) sagte James Tenney, Schüler und Begleiter von Cage, dass dieser mit den Europeras einer 400-jährigen Operntradition ein Ende gesetzt habe.18 Der Einfluss von Cage auf das heutige Musikgeschehen ist zweifelslos ein tiefgreifender, der auch bis in das ‚klassische‘ Musiktheater reicht. Doch zeigt sich das kaum im Musiktheaterbetrieb, wie er an den mitteleuropäischen Opernhäusern zelebriert wird (die machen munter weiter mit der Tradition), sondern vielmehr in den vielen neuen Zwischenformen, die zwischen Konzert und Theater entstanden sind und abseits der großen Opernbühnen ihre Realisierung finden. Einige sind hier beschrieben worden.
- Cage, John (1957): Experimental Music. In: Ders. (1961): Silence. Wesleyan University Press, Hanover und London. S. 12.
- Wolff, Christian (2001) Beitrag zu einer Diskussionsrunde. In: Mumma, Gordon (2001): Cage’s Influence: A Panel Discussion (Transskript). In: Bernstein, David W.; Hatch, Christopher [Hrsg.] (2001): Writings through John Cage’s Music, Poetry + Art. The University of Chicago Press, Chicago+London. S. 175.
- Hilberg, Frank (2012): Jedermanns Cage. In: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik. Heft 132, Februar 2012, S. 3.
- Roesner, David (2002): Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Dissertation, Universität Hildesheim. S. 55.
- Primavesi, Patrick (1999): „Geräusch, Apparat, Landschaft: Die Stimme auf der Bühne als theatraler Prozeß“, in: Forum Modernes Theater Bd. 14, 2/1999, S. 145.
- Kagel, Mauricio in: Prox, Lothar (1982): Abläufe, Schnittpunkte – montierte Zeit. Mauricio Kagel im Gespräch mit Lothar Prox. In: Alte Oper Frankfurt (Hrsg.) (1982): Grenzgänge, Grenzspiele, Ein Programmbuch zu den Frankfurt Festen '82. S. 121.
- Kagel, Mauricio in Roesner, David (2002): Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Dissertation, Universität Hildesheim. S. 37.
- Vgl. Knüppelholz, Werner (1999): Von Monteverdi zu Eisenstein – Die Filme des Komponisten Mauricio Kagel. In: Peter Csobádi u.a. [Hrsg.] (1999): Das Musiktheater in den audiovisuellen Medien – „...ersichtlich gewordene Taten der Musik“. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposiums 1999. S. 396.
- Zarius, Karl-Heinz (2008): Ein akustischer Stummfilm. In: Knüppelholz, Werner [Hrsg.] (2008): Vom instrumentalen zum imaginären Theater: Musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel. 1. internationales Kagel-Symposium an der Universität Siegen. Wolke Verlag, Hofheim 2008. S. 88.
- Adorno, Theodor W. (1977): Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M. 1977, S. 263.
- Goebbels, Heiner (1997): Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste. In: Sandner, Wolfgang: [Hrsg.] (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung. Henschel Verlag, Berlin. S. 135.
- Ebenda.
- Ebenda. S. 136.
- Finter, Helga (2002): Der imaginäre Körper - Text, Klang und Stimme in Heiner Goebbels' Theater. In: Sandner, Wolfgang [Hrsg.] (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung. Henschel Verlag, Berlin. S. 112.
- Pöllmann, Rainer (2012): Theater aus dem Geist der Musik. Vier ‚Drammaturgie‘ von Lucia Ronchetti. In: Booklet der CD: Lucia Ronchetti – Drammaturgie. KAIROS, 0013232KAI, 2012. S. 4.
- Z.B: Rebstock, Matthias (2008): Zur Präsenz des Abwesenden im instrumentalen Theater von Mauricio Kagel. In: Knüppelholz, Werner (2008): Vom instrumentalen zum imaginären Theater: Musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel. 1. internationales Kagel-Symposium an der Universität Siegen. Wolke Verlag, Hofheim. S. 69.
- Und: Fußnote xv., S. 5.
- Cage, John in Shapiro, David (1985): John Cage conversing with David Shapiro. In: Kostelanetz, Richard (1988): Conversing with Cage. Limelight, New York. S. 105.
- Tenney, James (2001) In: Mumma, Gordon (2001): Cage’s Influence: A Panel Discussion (Transskript). In: Bernstein, David W.; Hatch, Christopher [Hrsg.] (2001): Writings through John Cage’s Music, Poetry + Art. The University of Chicago Press, Chicago+London. S. 174.