Alles zum Thema:
2/2014 Shakespeare im zeitgenössischen Musiktheater
© Markus GradwohlBarocke Strukturen des Zeitgenössischen.
Die Komponistin Pia Palme
INTERVIEW
Anja K. Arend
Musik- und Tanzwissenschaftlerin.
Derzeit Doktoratsstudium an der Universität Salzburg.
Kurz nach dem Bühnenabbau ihres ersten Musiktheaterprojekts, der radikalen Oper ABSTRIAL, traf ich die Komponistin und Musikerin Pia Palme in einem gemütlichen Wiener Kaffeehaus. Wir sprachen über Barock und Elektronik, Heurige und Raumkonzeptionen, Notationen und Neugier.
terz: Pia Palme, Sie haben Blockflöte und Oboe studiert. Wie verlief Ihr Weg von der Musikerin zur Komponistin?
Palme: Der verlief in Etappen. Ich habe schon als Mädchen auf dem Heimweg von der Schule, in der ich Blockflöte gelernt habe, improvisiert. Ich wollte während des Gehens spielen und habe dann den ganzen Weg über gespielt. Da ich sicherlich kein Repertoire hatte, habe ich wohl improvisiert.
Der nächste Schritt kam dann mit 23. Zu der Zeit habe ich einen ersten Anlauf genommen, Komposition am Konservatorium zu studieren. Im dritten Jahr bin ich dann aber in Tonsatz stecken geblieben. Wir mussten gregorianischen Kontrapunkt machen, was einerseits sehr spannend war, andererseits hatte ich aber das Gefühl, das hat keinen Bezug zu dem, was ich ausdrücken will. Obwohl ich die Alte Musik immer sehr genossen habe, bin ich zu diesem Zeitpunkt ausgestiegen.
Später ging es über die Improvisation immer mehr in Richtung Komposition. Da ich aus einer Generation komme, in der ich als Komponistin in Österreich wenige Vorbilder hatte, hat es gedauert, bis mir klar wurde, dass Komponistin eine Option für mich sein kann.
Ich habe gemerkt, dass ich an Improvisationen zum Teil sehr lange arbeite und dann beim Wiedergeben sehr genau weiß, was ich vorhabe. Das waren zunächst hauptsächlich Solostücke für mein eigenes Instrument. Als ich dann begonnen habe, auch Elektronik in Verbindung mit der Blockflöte zu verwenden, wurde klar, dass ich immer schon sehr vorausgedacht habe bei meinen Improvisationen. Wenn man elektronische Programme verwendet, muss man immer vorausdenken.
Beim Versuch, in meine Improvisationen immer mehr Musiker/innen einzubeziehen, fing ich an, meine Vorstellung immer mehr auszuformulieren. Eine Zeit lang habe ich dann graphische Partituren geschrieben. Das war letztlich auch nicht mehr genau genug, und die Notenschrift wurde wieder aktuell.
Und jetzt in den letzten zwei Jahren hat sich durch mein Doktoratsstudium in Huddersfield in England einiges verändert. Mir wurde die Wichtigkeit von Notation bewusst. Da hat es begonnen, dass ich mich immer mehr für Notation an sich interessiere. Auch die herkömmliche Notation kann man sehr kreativ verwenden, sie ist sehr dehnbar und äußerst vielfältig, wenn man sie ein bisschen ändert. Interpreten sind auch gut trainiert, das zu lesen.
terz: Heute notieren Sie demnach traditionell?
Palme: Traditionell in der Hinsicht, dass ich mittlerweile wieder handschriftlich notiere. Eine Zeit lang habe ich mit dem Computer notiert. Viele Dinge, die ich mittlerweile mache, können mit den gängigen Computerprogrammen jedoch nur mit großem Aufwand notiert werden. Wirklich neue Wege des Schreibens zu finden, ist mit der Hand wohl eher möglich. Man ist in der Handschrift doch flexibler. Ich arbeite viel mit asynchronen Stimmen, die in verschiedenen Zeiten und Ausdruckswelten leben, und das mögen die Computerprogramme überhaupt nicht.
terz: Ihr Weg zur Komposition führte also über die Improvisation. Welche Rolle spielen Improvisation und Komposition in Ihren jetzigen Werken?
Palme: Es hat sich vom Ausdruck her auseinander entwickelt. Meine Kompositionen werden immer ausgefeilter, und meine Improvisation wird jetzt von der Komposition wieder beeinflusst. Wobei ich beides gerne mische. Ein Problem ist, dass sich in den letzten drei Jahren vieles so rasant verändert hat, dass ich es gar nicht richtig in Worte fassen kann. Das ist alles abgelaufen wie eine Rakete!
terz: Woher kommen in diesem rasant verlaufenden Prozess Ideen für neue Stücke?
Palme: Die tauchen ständig auf! Es gibt ständig Dinge, die mich interessieren. Sehr interessiert bin ich an Wahrnehmungsprozessen. Ich würde mich als einen sehr neugierigen Menschen bezeichnen, ich beobachte gerne, was in mir, in anderen, was beim Hören und was beim Musikmachen geschieht. Wenn ich Musik mache, sei es elektronisch oder mit meinem Instrument, dann beobachte ich, was geschieht, was ich denke, was innen und außen vorgeht. Wenn ich ein Stück schreibe, zum Beispiel für eine Stimme, dann versuche ich sehr genau auszuformulieren, in welchen Gedankenwelten und Gefühlswelten sich die Musik befindet. Dann arbeite ich bei der Einstudierung intensiv mit den Interpreten zusammen.
Palme: Der Vorteil ist, dass man neue Klangwelten parat hat. Menschen sind immer interessiert an neuen Klängen. Auf der anderen Seite ist da die Gefahr, dass man nicht eingeordnet werden kann. Zum Beispiel ist gerade in einer Kritik zu ABSTRIAL überhaupt nicht erwähnt worden, dass ich 35 Minuten Kontrabassblockflöte gespielt habe. Es könnte also auch gar nicht stattgefunden haben. Ich glaube, das hängt mit zwei Aspekten zusammen: erstens dass das Instrument nicht bekannt und zweitens nicht einzuordnen ist. Vielleicht wurde gar nicht erkannt, welche Klänge von der Blockflöte kamen. Es hätten wahrscheinlich genauso gut elektronische Klänge sein können, da sie so fremd sind, dass man sie nicht orten kann. Die Gefahr ist, dass zu fremde und ungewohnte Klänge nicht eingeordnet werden können und damit aus der Wahrnehmung herausfallen.
terz: Sind dies Aspekte, die Sie an der Verbindung von akustischer und elektronischer Musik interessieren?
Palme: Ja. An der Elektronik fasziniert mich, dass das ganze Spektrum zwischen Klang und Geräusch mit allen Zwischenbereichen vollkommen gleichberechtigt existiert. Es gibt nicht nur schöne Klänge oder ausgeweitete Instrumentaltechniken, sondern es ist einfach selbstverständlich, das gesamte Spektrum zwischen Klang und Geräusch zu nutzen. Auch jede Form von Mikrotonalität ist in der elektronischen Musik vorhanden. Einen elektronischen Klang kann ich in der Tonhöhe in alle Richtungen biegen. Das ist eine sehr große Flexibilität.
terz: Warum nehmen Sie dann überhaupt noch akustische Instrumente hinzu?
Palme: Die akustischen Instrumente sind für mich eine ganz besondere Welt. Ich mag sie einfach, da in ihnen eine jahrhundertelange Entwicklung steckt, die mich fasziniert. Die handwerkliche Perfektion, die ganze Musikgeschichte, die damit verbunden sind! Diese wunderbaren Klangspektren! Auch fasziniert mich die Bedienbarkeit der Instrumente. Eigentlich ist ein mechanisches Instrument eine Bedienoberfläche. Am Computer gibt es die nicht, auch wenn man gerade versucht mit verschiedenen Pads und Sensoren künstliche, auf Berührung reagierende Oberflächen zu schaffen. Meine Flöte zum Beispiel ist eine Ganzkörperbedienoberfläche. Ich verwende den Atem, die Lippen, die Finger und die Neigung des Instruments. Da ist man mit dem ganzen Körper beteiligt. Und das finde ich extrem spannend, wenn man mit dem ganzen Körper Musik macht! Das wäre für mich nicht wegzudenken.
terz: In Ihrer musikalischen Biographie verbinden sich ja auch noch zwei andere Welten – die Alte Musik aus Ihrer Ausbildung und nun zeitgenössische-elektronische Komposition. Wo sehen Sie da Verbindungen?
Palme: Da gibt es ganz große Verbindungen. Ich denke, dass die Alte und die Neue Musik einander im Konzept begegnen. Octavio Paz hat darüber viel geschrieben. In beiden Musik- oder Kunstrichtungen gibt es ganz stark die Idee des Konzeptes. Bei beiden gibt es die Auffassung, dass das Konzept ein essentieller Bestandteil eines Kunstwerks oder der Musik ist. Es gibt komplexe Strukturen, wie zum Beispiel die Affektenlehre im Barock. Im Barock hat man sich sehr viele Gedanken gemacht, bevor man etwas niedergeschrieben hat, und das ist in der jetzigen Musik genauso.
Was mich auch sehr fasziniert am Barock ist das Aufkommen einer Solosonate, in der versucht wird, in die Stimmführung eines Instruments mehrere Stimmen zu schreiben. Wenn ich zum Beispiel an die Solosonaten von J. S. Bach denke, springt das Soloinstrument dort manchmal zwischen zwei Stimmen hin und her. Das sind ganz interessante Dinge, die dort geschehen! Die obere und die untere Stimme werden quasi fragmentiert und man springt zwischen den Fragmenten hin und her. Als Blockflötistin oder Interpretin barocker Musik lernt man, wie man diese Fragmentierung interpretiert. Die obere Stimme wird anders artikuliert, geformt als die untere, da es ja eigentlich zwei verschiedene Räume sind. Die obere Stimme wird zum Beispiel länger und weicher angestoßen und die untere ein bisschen kräftiger oder kürzer, damit der eigene Charakter der beiden Stimmen hörbar wird. Ich setze in meiner Musik diese Fragmentierung auch gern ein. Eigentlich ist das wie Filmschnitte, man hat einen Streifen mit Oberstimme und einen Streifen mit Unterstimme, die werden dann geschnitten und man oszilliert zwischen Einstellungen hin und her. Und was im Grunde geschieht, ist ein Wechsel zwischen Welten. Es ist nicht einfach ein Bildwechsel, sondern es ist ein Wechsel zwischen Ausdruckswelten.
terz: Sie haben zu Ihrer Arbeit Der Kühnere Entschluss (2011) gesagt: "Ich sehe das Werk als eine zeitgenössische Kantate, mit der raumgreifenden Elektronik als heutigem Basso Continuo." – Was verbindet für Sie Elektronik und Basso Continuo?
Hörbeispiel: Ausschnitt aus Der kühnere Entschluss 2011
Palme: Ich habe das Gefühl, die Elektronik ist das, was früher das Cembalo und später das Klavier waren. Das sind Instrumente, die man solistisch spielen kann, in einer ganz meisterhaften Art und Weise, die aber auch eine ganze Bandbreite an anderen Funktionen haben. Ich kann mit beiden begleiten oder auch einfach Raum geben. Das Cembalo zum Beispiel öffnet einen Raum, in den eine Solostimme platziert werden kann. Allein schon von der Ausbreitung des Instruments ist ein Cembalo räumlicher als eine Stimme. Bei einem Klavier ist das noch ausgeprägter. Ein Flügel kann einen Klangraum bilden, in den man andere Klänge einbetten kann. Ich denke, die Elektronik ist heute genau das, was diese beiden Instrumente früher waren. Ich kann sie als virtuoses Soloinstrument einsetzen, ich kann sie aber auch als raumgebende Installation nutzen, wenn ich zum Beispiel die Lautsprecher in Bezug auf andere Stimmen entsprechend anordne. Ich kann Elektronik auf ganz ausgefeilte Art und Weise solistisch bedienen, ich kann aber auch orchestrale Wirkungen mit Elektronik erzielen. Das ist für mich sozusagen eine Weiterführung dieser orchestralen und vielseitig anwendbaren Instrumente wie Flügel und Cembalo.
terz: Räume tauchen in Ihren Arbeiten immer wieder auf. Welche Rolle spielen diese Räume?
Palme: Sie spielen eine ganz große Rolle! Ich erlebe Klänge sehr stark in Räume eingebettet. Wenn Musik aufgeführt wird, dann ist sie ja auch ganz stark vom Raum abhängig.
Ich bin in Sievering in Wien in einer Weinbaugegend aufgewachsen. Um meinem Häuserblock herum waren ungefähr fünf Heurige, als ich ein kleines Mädchen war. Die hatten alle große Gastgärten, und im Sommer ist da unheimlich viel los gewesen. Wenn ich in so einen Gastgarten hinein gegangen bin, war das ein Klangraum. Die Gespräche, die Geräusche und meistens irgendwelche musikalischen Ereignisse. Am Abend konnte ich bei offenem Fenster in meinem Zimmer im fünften Stock sämtliche Klangräume hören, die sich dort vermischt haben. Wenn ich einen Gastgarten eintrete, dann tauche ich in eine eigene Welt ein. Dort in meinem erhöhten Zimmer haben sich diese Welten begonnen zu mischen, und zwar je nachdem aus welcher Richtung der Wind kam. Es haben sich nicht nur Klangereignisse gemischt, sondern ganze Welten! Da war die Welt des einen Heurigen, in dem ein Schrammelquartett gespielt hat und ein anderer Heuriger, in dem Ziehharmonika gespielt wurde und ein dritter, in dem ein Tisch lauthals gesungen hat. Ich hatte beim Hören immer dieses räumliche Bild, wo die Klänge herkommen.
Wenn man genau aufpasst, wie man Töne und Klänge wahrnimmt, dann ist das immer mit Raum verbunden.
terz: Versuchen Sie in Ihren Kompositionen gezielt neue Räume durch Klänge zu konstruieren oder überlassen Sie das Hören von Räumen der Wahrnehmung des Zuhörers?
Palme: Ich versuche teilweise, es dem Zuhörer offen zu lassen. Es ist super, wenn jemand sich seinen eigenen Mix aus einem Konzertereignis machen kann. Aber das muss erst einmal ermöglicht werden. Ich habe zum Beispiel einmal einen riesigen Chor mit Solisten in einem Raum installiert, durch den die Zuhörer durchgehen konnten. Da konnte jeder sich seinen eigenen Mix zwischen Solisten und Chor herstellen. Ich finde es gut, wenn man nicht an jeder Stelle das Gleiche hört. Im Idealfall versuche ich Interpreten so zu positionieren, dass interessante Klangmöglichkeiten entstehen. Gerne mag ich auch das Verteilen von Lautsprechern. Bei einem Stück im Februar, das in England aufgeführt wurde, habe ich versucht vier von insgesamt sechs Lautsprechern in einem großen Raum indirekt zu positionieren. Sie waren gegen die Wand gedreht und erzeugten so einen gedämpften, weichen Klang. Zwei Lautsprecher waren direkt nach vorne zum Publikum ausgerichtet, und im Raum standen noch eine Flötistin und ein Schlagzeug. Wenn so etwas möglich ist, finde ich das ganz toll!
terz: Ein wichtiger Aspekt in Ihrer künstlerischen Biographie ist die Situation weiblicher Komponistinnen. Wie sieht diese Situation derzeit aus?
Palme: Ich glaube, dass sie sich bessert. Wenn allerdings das Geld knapp wird, dann gibt es immer ein Zurück ins Traditionelle. Gina Mattiello und ich wollten mit unserem Festival e_may für neue und elektronische Musik vor allem Arbeitsmöglichkeiten für Komponistinnen schaffen. Es ging nicht darum, exklusiv oder feministisch tätig zu sein, sondern um die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten. Da muss sich wirklich etwas ändern! In Huddersfield habe ich als Tutorin für mein Doktorat eine Professorin. Das ist wirklich spannend und inspirierend. In England gibt es dutzende ältere Komponistinnen, die jetzt zwischen 70 und 85 Jahre alt sind. Es ist ganz toll, wenn man diese Frauen trifft, die ihr Leben lang als Komponistinnen tätig waren. Das gibt es in Österreich kaum. Wenn ich denke, dass ich eine Großmutter hätte, die Komponistin wäre, dann würde ich ganz anders an die Sache herangehen. Obwohl auch in England Kompositionsaufträge viel seltener an Frauen als an Männer vergeben werden. Da gibt es genau die gleichen Schwierigkeiten, mit denen wir auch zu kämpfen haben: die fehlende Wahrnehmung und mangelnde Kompositionsaufträge.
terz: Kann sich an dieser Situation durch eine eigene Vernetzung, wie e_may sie anstrebt, etwas ändern?
Palme: Ja, da kann sich schon etwas ändern. Es ändert sich einfach das Selbstverständnis, wenn man gemeinsam mit Kolleginnen wahrgenommen wird, wenn man austauscht, wie gearbeitet wird und man sich kennenlernt. Allein schon dieser Austausch ist anregend! Je mehr Möglichkeiten man hat, desto mehr lernt man. Die Vernetzung ist wirklich ein Experimentierfeld.
terz: Gestern wurde Ihr erstes Musiktheaterprojekt beendet. Was reizt Sie am Musiktheater?
Palme: Da reizt mich Mehreres! Erst einmal die räumliche Anordnung, die Möglichkeit Musik und Raum zu verbinden. Indem sich Interpreten und Sänger/innen durch den Raum bewegen, wird Musik im Raum bewegt. Die Verräumlichung von Musik in jeder Hinsicht finde ich dabei extrem spannend.
Die Interdisziplinarität finde ich bei der Idee der Oper auch großartig. Diese alte Idee der Oper, aus möglichst vielen verschiedenen Disziplinen etwas zu machen, diese Multimedialität. Einfach alles zu nützen, was im Moment verfügbar ist. Besonders interessiert mich auch die Verbindung mit Tanz oder Performance. Da taucht wieder der Aspekt des Raums auf, Tanz ist ja Bewegung im Raum. Wobei der zeitliche und der geistige Raum hier zusammengehören.
Und die gesellschaftliche Dimension! Das Theater hat immer eine gesellschaftliche Dimension. Da komme ich auch wieder auf das Barock zurück. In der Frühzeit der Oper hat sich die Gesellschaft dort selbst abgebildet. Die Menschen auf der Bühne waren nicht viel anders gekleidet, als die im Publikum. Es war dieselbe Zeit, die Musik war zeitgenössisch, die Kulissen waren zeitgenössisch. Eine Gesellschaft hat sich damals im Bühnengeschehen selbst gespiegelt. Nach meinem Verständnis ist eine barocke Oper keine Parallelwelt, sondern sie existiert in derselben Welt wie die Gesellschaft. Eine Gesellschaft bildet sich selbst ab, nimmt sich selbst wahr und inszeniert sich. Ich greife hier wieder auf Octavio Paz zurück. Das ist dann später verloren gegangen. Das Repertoire ist musealer geworden und das Zeitgenössische ist besonders im 20. Jahrhundert weggefallen. Die Oper wurde immer mehr zu einer Parallelwelt. Mit ABSTRIAL wollten wir wieder weg von dieser Parallelwelt. Diese gesellschaftliche Dimension finde ich sehr spannend, ich denke viel über den Kontext von Musik nach. Und gerade Musiktheater ist für mich eine Möglichkeit, den Kontext mitzugestalten. Im Grunde ist Musik für mich ohne Kontext nicht denkbar. Sie ist überhaupt keine abstrakte Kunst. Wahrscheinlich ist sie neben der Architektur eine der Künste, die am meisten vom sozialen Kontext abhängen. Das wird nur oft übersehen.
terz: Die barocke Gesellschaft war im Grunde sehr klar strukturiert. Wie ist es eine nun immer komplexer werdenden Gesellschaft auf der Bühne zu spiegeln?
Palme: Ich finde diese Spiegelung in den Strukturen der Musik. Man kann die heutigen gesellschaftlichen Strukturen durchaus auf die Komposition übertragen. Zum Beispiel haben bei ABSTRIAL zwei Komponistinnen, nämlich Electric Indigo und ich, arbeitsteilig und unabhängig an der Musik gearbeitet. Electric Indigo hatte die Elektronik komplett in ihrer Hand, auch den Lautsprecheraufbau und damit die Verräumlichung ihrer elektronischen Musik. Ich war verantwortlich für die Stimmen inklusive Textaufteilung und deren Spatialisierung, die wiederum in die Regie eingeflossen ist, und mein eigenes Instrument. So sind eigentlich zwei Kompositionen entstanden, die im Stück zwar parallel laufen, aber unabhängig voneinander entwickelt wurden. In der heutigen Gesellschaft laufen viele Dinge asynchron. Die Menschen leben in ihren eigenen Welten, mit ihren eigenen Beschäftigungen, treffen einander punktuell und gehen dann wieder auseinander. Es läuft meist nicht synchron. Der Fluss der Gesellschaft ist eher eine polyphone Bewegung wie früher in der Renaissancemusik. Diese Vielschichtigkeit funktioniert auch gut in der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen.
terz: Das sind ja eine ganze Menge Interessen. Gibt es also ein weiteres Musiktheater?
Palme: Es gibt schon Ideen. Wir haben die Zusammenarbeit wirklich sehr genossen. Besonders die Dimension des zeitgenössischen Tanzes in der Zusammenarbeit mit Paola Bianchi war für mich anregend. Die Kulturgeschichte des italienischen Tanzes ist faszinierend. Ich habe begonnen die Schriften von Domenico da Piacenza zu lesen, die auch schon ein bisschen in das Stück eingeflossen sind. Sein Begriff der Fantasmata ist sehr spannend. Ich mache mir wie schon vorher erwähnt sehr viele Gedanken darüber, was in meinem Kopf geschieht, während ich spiele, da passt das – übrigens auf Aristoteles zurückgehende – Konzept der Fantasmata sehr gut. Ich hoffe, dass es weitere Projekte gibt, auch wenn Musiktheater eine organisatorische Herausforderung ist - was es wiederum interessant macht.
Wenn vier bis fünf Menschen aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten, dann bringen sie ihre Welten mit. Wir haben viel gestritten und diskutiert. Für die Regisseurin war es schrecklich, dass wir mit Kabeln, Notenständern und Lautsprechern auf die Bühne wollten, und diese sichtbar waren. Aber unser Ziel war keine Parallelwelt, wir haben uns entschieden, das alles präzise angeordnet auf der Bühne zu haben. Am Ende findet man gemeinsame Lösungen und es kann so viel daraus entstehen. Das ist etwas mühsam – nein, nicht mühsam, herausfordernd! Und es braucht seine Zeit.
terz: Gibt es etwas, was Sie schon immer einmal komponieren wollten? Einen ganz persönlichen Kompositionstraum?
Palme: Musiktheater würde ich gerne wieder machen. Stimmen finde ich nach wie vor faszinierend, für Stimme würde ich gerne noch mehr schreiben. Und irgendwann einmal ein zeitgenössisches Solokonzert für Kontrabassblockflöte, womöglich mit Elektronik - ein persönlicher Wunsch.
terz: Und jetzt am Wochenende geht es für einen Monat nach Teheran. War das eine Einladung?
Palme: Ja, das war eine Einladung, nun schon die Dritte. Diesmal fahre ich als Austrian Artist-in-Residence in den Gartenpavillon der österreichischen Botschaftsresidenz. Das ist eine wunderschöne alte Villa im Norden von Teheran mit einem weitläufigen alten Garten, der mit einer hohen Mauer umgeben ist, wie alle orientalischen Gärten. Dort gibt es ein sogenanntes Teehaus, und das wird an Künstler/innen für eine Residency vergeben - eine Art Klausur mitten in einer 14-Millionenstadt.
Ich würde gerne mit iranischen Musiker/innen ein Projekt in diesem Garten machen.