Vermittlung Magazin

Ich bin sowieso keine Schreibtisch-Komponistin

Pia Palme - eine biographische Darstellung

PORTRAIT
Laura Thelen

Studierte Musikwissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Wien. Schon während ihres Studiums hatte sie verschiedene Positionen im Musikmanagement inne und ist derzeit für die Organisation des "ensemble xx. jahrhundert" zuständig.

Die 1957 in Wien geborene Komponistin und Musikerin Pia Palme, war von klein auf der Musik verbunden. Laut eigener Aussage hat sie sich schon früh mit visueller Kunst beschäftigt und fiel als künstlerisch begabtes Kind auf. Für sie persönlich war der Klang im Allgemeinen – also auch Geräusche – nicht so sehr die Musik, das Medium, über das die Welt/die Phänomene/die Umgebung mit ihr in Verbindung traten.

Das Visuelle schien ihr als selbstverständlich, vorgegeben, stets gegenwärtig. Klang hingegen war die Wahrnehmung, die sie tiefer berührte: "Klang hat im Kontext des Visuellen einen besonderen, zusätzlichen Raum aufgespannt und Kommunikation ermöglicht – bis in mein Innerstes." Musik als besondere Form dieser Verbindung hat sie interessiert, seit sie sich erinnern kann. Ihre Eltern waren auf ihre begabte Tochter einerseits stolz, andererseits hielten sie die heute erfolgreiche Künstlerin dezidiert von einer intensiveren Ausübung der Kunst oder Musik ab.

 

In der Volksschule erlernte sie Blockflöte und besuchte schon mit zwölf Jahren die KONSuni. Sie besuchte die Klasse von Hans Ulrich Staeps, der einer der eigenwilligsten Pioniere der Blockflöte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Künstlerin war. Staeps Art, Musik unkonventionell anzugehen, beeinflusste Pia Palme sehr. Ihre Nebenfächer waren Harmonielehre und Musikgeschichte.

In dieser Zeit probierte die Musikerin alle Instrumente aus, die ihr in die Finger kamen. Sie saß stundenlang in der Kirche und hörte den einzelnen Orgeltönen im Raum zu. Bei einem Sommerurlaub am Bauernhof ergriff sie die Klarinette des Bauern oder probierte das alte Flügelhorn des Großvaters. Ein Schlüsselerlebnis hatte Pia Palme mit 14 Jahren bei einer der Musikgeschichtsstunden im Konservatorium. Dort wurde sie aufgefordert, Musik von Gesualdo da Venosa polyphon zu hören. Diese Aufgabe machte ihr ihre Hörgewohnheiten drastisch bewusst und veränderte diese gleichzeitig. Später folgten Blockflötenstudien bei Ernst Kölz und Hans-Martin Linde. Oboenunterricht erhielt sie erst mit 19 Jahren.
Bereits zwei Jahre zuvor (1975/76) ging sie für ein Jahr an eine amerikanische Highschool. Dort war sie Trompeterin in einer Marching-Band mit "verrücktem lila Kostüm". Die Herausforderung: präzise spielen und präzise bewegen. Zu jener Zeit organisierte sie auch erste Barockkonzerte.

 

Nach der Matura begann sie wegen des elterlichen Dauerwiderstands gegen die Kunst ein Studium an der TU, besuchte aber weiterhin das Konservatorium und erhielt bald darauf das künstlerische Diplom für Blockflöte und später die Lehrbefähigung als Instrumentallehrkraft.

Durch das frühe Erlernen der Blockflöte entwickelte sie ein großes Interesse an den tiefen Instrumenten der Blockflötenfamilie. Sie bieten für sie noch heute eine spannende Erweiterung der Klang- und Spielmöglichkeiten. Diese Leidenschaft brachte sie zum Schweizer Blockflötenbauer Küng, wo sie sich ihren F- und C-Bass kaufte.

Die Manufaktur Küng begann früh, Bassinstrumente der Blockflötenfamilie mit modernen Mitteln – wie z.B Klanganalyse – zu verbessern und neu zu entwerfen. Geri Bollinger, für Palme der Daniel Düsentrieb der Blockflöte, ist dort als Konstrukteur tätig. Sie beobachtete jahrelang die Entwicklung des neuen Kontrabasses oder Subbasses (beide Bezeichnungen werden verwendet) und kaufte sich 2007 einen der ersten. Es ist eines der wichtigsten Instrumente ihrer Kompositionen. Küng unterstützte die Komponistin schon mehrfach, u.a. bei ihrer ersten Solo-CD ORCHIDEE, mit Einladungen für Konzerte und Präsentationen, aber auch durch ein maßgeschneidertes Flight-Case.

 

Hörbeispiel: Ortung, aus der Solo-CD ORCHIDEE

 

 

 

In dieser Zeit unterrichtete Pia Palme parallel zu ihren Studien an der internationalen Musikschule der Stadt Wien mit Englisch als Unterrichtssprache und war im Konzertbereich tätig. Sie spielte bei Barockkonzerten, sprang als Oboistin bei diversen Messen sowie Oratorien ein und war Springerin für das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, im Stadttheater Baden und der Rathauskapelle Wien – um nur einige zu nennen.

 

Das Studium an der TU schloss sie ab und absolvierte daraufhin das Probejahr an einer Schule. Da sie jedoch schon zu intensiv mit Musikunterricht beschäftigt war, legte sie die Mathematik und Geometrie ad acta. Sie wird jedoch immer noch oft von ihrem TU-Studium beeinflusst, wie sie selbst sagt:

"Denken in Räumen, in mehreren Dimensionen; Klarheit, Analyse, Strukturaufbau. Diffizile langwierige Aufgabenstellungen durchdenken. Meine Mathediplomarbeit hatte ich zum Thema Die Pythagoräer und ihr Einfluss auf die Mathematik der Antike geschrieben: daher Konnex zur Philosophie, Grundlagenforschung."

Mit 24 begann Pia am Konservatorium ein Kompositionsstudium, welches sie im 3. Jahr abbrach, da sie überhaupt keine Richtung sah, wohin sie das Studium führen sollte. Sie schrieb, laut eigener Aussage: "nette gregorianische Kontrapunkt-Sätze, aber hatte keinen Tau, wie ich eigene Kreativität darauf aufbauen könnte". 

 

Als Pia Palme für zwei Monate nach Colorado, Boulder ans Naropa Institute im Rahmen einer Sommerakademie für Improvisationsunterricht bei dem Jazz-Schlagzeuger Jerry Granelli ging, erlebte sie die erste intensive Berührung mit freier Improvisation. Dort belegte sie auch Tanztherapie und Raumgewahrsein. In dieser Zeit lernte sie Anne Waldman kennen, mit der sie u.a. für ABSTRIAL zusammenarbeitete.

Zurück in Wien konnte sie an diese Erfahrungen in der Improvisation nicht gleich anschließen. Die hiesige museale Musikwelt, so Palme, habe die Ansätze zur Freiheit bis auf Einzelereignisse bald erstickt. 

Zwei Jahre später, bereits verheiratet und Mutter zweier Kinder, ging sie für drei Monate samt Familie in einer Zeltstadt mitten in den Rocky Mountains, Colorado, auf Klausur. In dieser Zeit machte sie viel Musik.

"Ich wollte später auch noch Diplomprüfung auf der Oboe machen, da kam dann ein Knackpunkt: ein halbes Jahr vor Studienabschluss habe ich das abgebrochen, es schien mir total sinnlos. Ständig wiederholen und perfektionieren von musealer Musik... aus, vorbei. Es ging nicht mehr."

Sie beendete ihre Tätigkeit als Oboistin und hörte für ein paar Jahre auf, als Musikerin zu arbeiten – unterrichtete aber weiterhin an der Musikschule der Stadt Wien und an der pädagogischen Akademie.

 

In den kommenden Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit dem tibetischen Buddhismus. Fünf Jahre lang koordinierte sie ein Meditationszentrum in Wien, lehrte an internationalen Seminaren, die sie zum Teil eigenständig organisierte.

"Warum ich damit wieder aufgehört habe? Ich war dabei, eine Laufbahn als Meditationslehrerin zu verfolgen. Dabei bin ich immer feministischer und kreativer, sprich unangepasster geworden, das kulminierte in einer schweren Auseinandersetzung mit dem System/den Führungskräften/Lehrmeinungen. Ich habe wieder einen radikalen Schnitt gezogen, wie bei der klassischen Musik und dieses System verlassen. Mir wurde klar, dass ich endlich meiner Kreativität Spielraum geben möchte und nicht wieder irgendeinem System auf den Leim gehen will, das mir keinen Spielraum lässt: Also auf in die Freiheit der experimentellen und improvisierten Musik."

 

Somit kam sie im Alter von 43 Jahren zu dem Punkt, wo ihr bewusst wurde, dass sie sich ausschließlich der neuen, heutigen Musik widmen wolle. Das erste eigene abendfüllende Musik/Kunstprojekt konzipierte und realisierte sie 2003 im Heizhaus Stammersdorf: "Feuermusik im Heizhaus, mit Blockflöten und etwas Elektronik, reduziertes Bühnendesign Musik und Text". 2005 erschien die erste Aufnahme: sie mietete drei Monate lang aus eigenem Antrieb heraus ein leerstehendes Geschäft im Tech-Gate auf der Donauplatte, installierte eine Anlage und machte jeden Tag öffentlich sichtbar Musik, übte und improvisierte. 

Pia Palme veranstalte dort eine Konzertreihe und lernte Jorge Sanchez-Chiong kennen. Auch über diesen gewann sie allmählich Anschluss an die Wiener Szene.

 

Dennoch war sie mehr und mehr darüber frustriert, dass komponierende Frauen bei etablierten Festivals wie WIEN MODERN in den Jahren 2005 und 2006 so wenig Berücksichtigung fanden. Daher wuchs der Entschluss, selbst zu handeln und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, um Arbeitsmöglichkeiten für Komponistinnen zu schaffen. Gina Mattiello hatte die Idee, ein Festival für Komponistinnen zu gründen. Als Kernstück sollten Kompositionsaufträge vergeben werden, die bei dem Festival uraufgeführt werden. Somit wurde die eigentliche Arbeit von Komponistinnen gefördert. 2007 fand "e_may" zum ersten Mal statt.  

"Via e_may bin ich auch selbst zur Komponistin geworden. Anders wäre es gar nicht gegangen – in meinem Alter und bei meinem Werdegang entfallen sämtliche Fördermöglichkeiten: keine Uni-Umgebung, keine Studentenensembles, keine Förderung durch eine Kompositionsklasse und deren Professor, keine Wettbewerbe – die haben nahezu alle Altersbeschränkungen, keine Förderpreise – d.h. die übliche Empor-Turnerei von Uni zu Wettbewerb, Preis und Auftrag zum nächsten entfiel bei mir völlig."

 

Mit Werken wie AX.WHO oder VARIETIES entstanden im Jahr 2009 die ersten deutlicher notierten Kompositionen. Erst von diesem Moment an bezeichnete sich Pia Palme selbst als Komponistin. Im selben Jahr war sie für zwei Monate in Wellington, Neuseeland, einerseits für Konzerte, andererseits für Workshops auf Universitäten. Weitere mehrmonatige Auslandsaufenthalte absolvierte Pia Palme in Island, Reykjavik, sowie dreimal in Teheran. So ergeben sich für sie mehr Möglichkeiten, am jeweiligen lokalen Musikleben teilzunehmen. Dort arbeitet sie gerne als Komponistin bzw. improvisierende Musikerin oder Interpretin von Stücken von KomponistInnen vor Ort: "Tief in den lokalen Alltag eintauchen – das ist für mich das Fundament der Kunst, der Alltag. Wenn ich an einem Ort einkaufen gehe, zum Frisör oder in den Copyshop, kann ich als Komponistin Fuß fassen – Fuß fassen, das ist es. Durchaus im Sinne von John Cage: Alltag = Kunst. Ich möchte nicht zwischen Musik und Alltag unterscheiden. Mein Geist, mein Denken und meine Gefühle sind nicht anders, wenn ich Wäsche wasche oder komponiere, auftrete. Nichts Besonderes. Eine gewisse Bescheidenheit."

 

Im Alter von 53 Jahren entschied sie sich für ein Doktorat an der Universität Huddersfield und beendete gleichzeitig ihre Tätigkeit als Lehrende. Die betreuende Professorin war Liza Lim. Es war das erste Mal, dass sich jemand intensiv mit ihrem Schaffen auseinandersetzte und mit ihr ihre Partituren besprach. Gleichzeitig setzte sich Palme intensiv mit Lims Werken auseinander. Ein Austausch auf Augenhöhe. Lim motivierte die Komponistin, über ihre Grenze hinauszugehen, sie kommentierte die Stücke nicht, stellte höchstens Fragen. Palme fühlte sich somit frei in der Forschung und in ihren Kompositionen, was ihr beim Doktorat sehr zu Gute kam: "Ich bin von der Improvisation über immer größere Projekte, die ganze Ensembles umfassten, via grafische Notation immer genauer und genauer geworden - ganz selbstgestrickt, ohne Kompositionsstudium. Mit großer Naivität, aber dafür mit sehr viel eigenständiger Kreativität. Ich hatte immer mehr fertig im Kopf, als ich notiert habe, es war mir aber nicht bewusst. Das Positive an meiner Entwicklung war, dass ich starke und tragfähige eigene Ideen und Konzepte entwickelt habe, auf denen ich jetzt aufbauen kann."

 


Notation ist für Palme ein wichtiger Schlüssel zur Frage, wie sie ihre Konzepte, Ideen und Klangvorstellungen verschriftlicht. Notation sieht sie als Werkzeug in einem maskulinistisch – ganz bewusst verwendet sie diesen Ausdruck aus der aktuellen Männerforschung – organisierten Kunstbereich, das zum Machtinstrument wird, um Türen zum Musikbusiness zu öffnen. Durch Diskussionen mit Liza Lim über gesellschaftliche Dimensionen, inklusive feministischer Aspekte von Notation fand Pia Palme einen Weg der Notation, der ihrer Gedankenwelt entspricht. Sie entdeckte über die Notationssuche, dass ihre Musik eine Sonifikation von Gedankenvorgängen ist. Die Klänge gehen von Innen nach Außen, schnell oder langsam, über Schichten des Bewusstseins, den Schichten von Klang entsprechend. Seither arbeitet sie als Freischaffende.

"In den letzten Jahren ist es richtig herausgeströmt aus mir, ein wenig wie Lava aus dem Vulkan...  Das Gute an meinem Alter: ich bin sehr frei und weiß was ich will, kann mit viel Erfahrung konzentriert arbeiten, meine Kinder sind aus dem Haus...".

Die Komponistin interessiert sich dafür wie Kunst/Musik in der jeweiligen Gesellschaft entsteht. Welchen Stellenwert sie hat und wer sie wo ausübt. Diese Strukturfragen sind für sie sehr wesentliche Elemente in ihrem kompositorischen Denken. Die Unterschiede, die sie bei den verschiedenen Auslandsaufenthalten erlebt hat, beschreibt sie als enorm. Palme bezeichnet sich selbst als einen neugierigen, forschenden Geist. Es macht ihr Spaß, diese Dinge zu ergründen und daran teilzunehmen. Es inspiriere und ermögliche ihr Musik/Kunst aus neuen Blickwinkeln wahrzunehmen und zeitgenössische Musik aus globaler Sicht zu begreifen. Eine spannende Frage ist für sie, ob sie mit ihrem Musikschaffen in einer Gesellschaft, die ganz anders aufgebaut ist, Resonanz, Verständnis und Gehör findet. 

 

"Ich bin aber sowieso eher keine Schreibtisch-Komponistin. Ich würde nicht so wie etwa Schönberg etwas schreiben und jahrelang in der Lade liegen lassen wollen, bis es aufgeführt wird. Meine Stücke manifestieren sich an Gelegenheiten. Wie wenn man einen Faden in eine Nährlösung senkt und sich daran Kristalle bilden. Ich suche Orte/Zeiten für Verwirklichungen. Die Ideen sind die ganze Zeit da, im gleichsam schwangeren Raum und ich finde Möglichkeiten zur Verwirklichung."

Für sie ist Neue Musik ist nicht so abstrakt, wie sie vorgibt zu sein. Sie ist vollkommen vom sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext geformt. Derzeit ist Pia Palme wieder für einen Monat im Iran und spürt dort umso mehr, wie übermächtig präsent die gesellschaftliche Seite ist. Je globaler sie unterwegs ist, desto stärker fühlt sie sich damit konfrontiert.

Wenn sie komponiert, versucht sie in der Komposition auch neue gesellschaftliche oder systemische Strukturen zu spiegeln oder, wenn möglich herzustellen. Zum Beispiel den Einsatz von Audio-Partituren bei einem Requiem, um einen Chor gegenüber SolistInnen asynchron-fernzusteuern.

 

Ihr Schaffen als Komponistin baut, wie schon beschrieben, nicht auf einem Studium im herkömmlichen Sinne auf – im Gegenteil, sie fühlte sich zunächst davon behindert. Mittlerweile spürt Pia Palme jedoch, dass alle Studien Spuren, Erfahrungen und Wissen bei ihr hinterlassen haben. Sie knüpft daran an und ermöglicht es sich so, Dimensionen zu erschließen, innere Netzwerke zu flechten, die ihre Werke tragen. Aktuell interessiert sich die Komponistin besonders für die menschliche Stimme: "Das ursprünglichste Instrument und gleichzeitig die direkte Verbindung von Innen, den Gedanken, und Außen. Deshalb komponierte ich auch die 'radikale' Oper ABSTRIAL. In diese Richtung möchte ich gern weiter gehen. Ich hab' schon Ideen für weitere Musiktheaterwerke. Das Wichtige ist die Hartnäckigkeit immer weiter zu machen. Nach radikalen Schnitten wieder einen Faden aufzunehmen und weiterzugehen. Die offene Zukunft."