Alles zum Thema:
2/2014 Shakespeare im zeitgenössischen Musiktheater
ABSTRIAL - Uraufführung
a radical contemporary opera - all streets of the world collapse in our mouths
REZENSION
Maria Tunner
Studium Musikwissenschaft, Musikvermittlung-Musik im Kontext sowie Elementare Musikpädagogik.
Eine Koproduktion von Suono und KosmosTheater
ABSTRIAL – die Zusammenführung der Begriffe Abstraktion und Material. Eine spielerische Wortkreation, die bereits das grundlegende Konzept des Werkes reflektiert: Material wird der Abstraktion unterworfen um daraus Neues zu schaffen. Dieses Neuentstandene manifestiert sich zwar in konkreten Formen und Erscheinungsbildern, lässt aber dennoch Raum für Imagination und Phantasie.
ABSTRIAL – eine radikale Oper in größtmöglicher Transparenz, eine flüchtige Darbietung steter und unaufhaltsamer Prozesse, so die Beschreibung des Stückes, das auf der Konzeption von Paola Bianchi (Regie / Choreographie) Pia Palme und Electric Indigo (Komposition) sowie Ivan Fantini (Installation) beruht.
Die Darstellung wahrnehmbarer oder unmerklicher Prozesse wird zum Grundprinzip des Werkes. Prozesse implizieren Veränderung, Auflösung, Transformation und Neuzusammensetzung. Prozesse können unvorhersehbar und unkontrollierbar sein. Prozesse führen ziellos ins Ungewisse. Prozesse liegen unserer natürlichen und artifiziellen Lebenswelt zugrunde und werden in jedem Moment erfahrbar. In ABSTRIAL wird diesen Prozessen konkretes Material unterworfen: Stimmen, Bewegungen, Körper und Texte, die größtenteils von der US-amerikanischen Dichterin Anne Waldman verfasst wurden. Diese klanglich und performativ dargestellte prozesshafte Dekonstruktion dient als Symbol für den Zerfall alltäglicher Werte, Bedeutungen und Strukturen und ermöglicht die Neuzusammensetzung und Formung der Ausgangsmaterialien.
Zentrales Element der Tanz- und Sprachperformance ist jedoch Teig. Eine Installation aus in Gläser gefüllter Brotteig des Künstlers und Kochs Ivan Fantini bildet den Mittelpunk der Bühne. Durch die Erwärmung des Teiges geht dieser langsam auf und bringt das Glasbehältnis zu Fall – unvorhersehbar, zufällig, unvermeidbar. Das geräuschhafte Zerspringen der Gläser wird gleichsam zur rhythmischen Zensur und zum Sinnbild eines organischen Prozesses. Wann wird der nächste Teig sein Glasgefängnis sprengen? Wird der Moment des Ausbrechens wahrnehmbar sein?
Gibt es eine Korrelation zwischen dem, sich kaum merklich ausdehnenden Teig und den Bewegungen der AkteurInnen auf der Bühne? Denn auch die ausdrucksstark getanzte Choreographie von Paola Bianchi erweckt den Anschein als wolle sich etwas aus der Enge ihres Körpers befreien. Jedes Körperteil lotet seine spezifische Bewegungsfreiheit und Flexibilität aus, wird genauestens untersucht und im wahrsten Sinn des Wortes beleuchtet. Paola Bianchi entwickelt mit dieser Bewegungsstudie eine individuelle Sprache, die auf subtile Weise das Ausbrechen aus der Begrenztheit des Körpers und den Wunsch nach Weite und Offenheit zum Ausdruck bringt. Der Körper der Tänzerin geht dabei auf spannende Weise einen Dialog mit seinem Schatten ein, der durch den Lichteinfall (Lichtdesign | Paolo Pollo Rodighiero) in überdimensionaler Größe im Raum erscheint. Die Grenzen zwischen Realität und Projektion scheinen zu verschwimmen. Wer führt hier wen – und wohin führen mich meine Assoziationen und Gedankenbilder? Ist das auf der Bühne sichtbare Geschehen das reale Ereignis oder sind es nicht vielmehr die beständigen Schattenbilder der Gläser, Körper und Objekte?
Dualitäten und Dialoge rücken ins Zentrum: zwischen Außen und Innen, Klang und Stille, Schatten und Körper, Realität und Phantasie, Licht und Dunkelheit, zwischen Zerfall und Kreation.
Den Bogen zwischen Installation, Text und Performance spannt schließlich der elektronisch generierte Sound von Electric Indigo. Auch ihr geht es um die Zersetzung von Text und Wort: Knarzige Klänge aus Text und Glas. Wuchtige Klänge aus Glas und Text. Entropische Schönheiten. Die aus granularen und spektralen Zerlegungsmechanismen entstehenden abstrakten Klangskulpturen verweben sich mit Gesang, Bewegung, Licht und Geräusch zu organischen Klanggebilden und lassen eine Atmosphäre entstehen, die sowohl Transparenz als auch höchste Dichte und Verdichtung aufweist.
Einlassen – Wahrnehmen – Nachgeben – Aufgehen – Zerbrechen und Neuzusammensetzen. Ein ewiger Kreislauf, ein Prozess, der Bestehendes transformiert und Neues schafft. Ob das Ausbrechen gelingen wird, bleibt dahingestellt. Werden sich Stimmen und Bewegungen aus ihren Strukturen befreien können? Können wir ohne dieses Gerüst, ohne die sichere gläserne Hülle um uns herum überhaupt bestehen?
ABSTRIAL ist eine Musiktheater-Produktion, die viele Fragen aufwirft und genreübergreifend versucht, Antworten zu finden.
ABSTRIAL ist ein Stück, das auf vielen Ebenen gängige Muster, Strukturen und Bedeutungen durchbringt, wenngleich es nicht ganz ohne das intellektuelle Gedankengerüst avantgardistischer Kunstströmungen auskommt. Mag sich dabei die eine oder andere Bestrebung zugunsten eines sinnlichen Eintauchens in die atmosphärischen Klang- und Bildwelten nicht transportiert haben, so tut dies dem Gesamteindruck keinen Abbruch.
Zumal man nach der Vorstellung sogar exquisite Marmelade erstehen konnte und diese sogleich mit frisch gebackenen Brötchen – wohl aus dem Teig der Generalprobe – vorkosten konnte.
Die Uraufführung war am 25. April 2013 im KosmosTheater Wien.
Konzept: Paola Bianchi, Pia Palme, Electric Indigo, Ivan Fantini
Regie und Choreografie: Paola Bianchi
Komposition für Bariton, 3 Frauenstimmen und Kontrabassblockflöte: Pia Palme
Komposition für Computer und 10 Lautsprecher: Electric Indigo
Text: Anne Waldman, Ivan Fantini, Pia Palme
Installation: Ivan Fantini
Mit: Paola Bianchi, Pia Palme, Electric Indigo
SängerInnen: Bartolo Musil, Eva-Maria Kumpfmüller, Johanna von der Deken, Anna Clare Hauf
Lichtdesign: Paolo Pollo Rodighiero
Klangregie: Christina Bauer
Eine Koproduktion von Suono und Kosmostheater
Organisationsassistenz: Caroline Profanter
Ort: Kosmostheater
Datum: 25. April - 27. April 2013
Uhrzeit: 20:30 Uhr
Karteninfo: www.kosmostheater.at
Maria Tunner