Vermittlung Magazin

"Jesu Hochzeit" – Eine Mysterienoper wird zum Skandal

ESSAY
Thomas Leibnitz

Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

Über die Motivation, sich kompositorisch mit Inhalten des christlichen Glaubens auseinanderszusetzen, äußerte sich Gottfried von Einem in seiner Autobiographie: "Ich wollte immer etwas über Jesus Christus schreiben, nichts Doktrinäres, sondern eine Anwendung seiner Lehre aus der Bergpredigt, einem der gigantischen Dokumente der Menschheit."1 Lotte Ingrisch griff die Anregung auf und schrieb das Textbuch, das – nach ihrer Interpretation – als zeitgemäße Paraphrase der biblischen Texte aufzufassen sei: "'Jesu Hochzeit' ist eine Mysterienoper, darstellend die Erlösungsgeschichte und Passion. Die heiligen Texte wurden nicht verändert."2

 

Angesichts solcherart formulierter Intentionen mutet es höchst erstaunlich an, dass bereits die Ankündigung der Uraufführung von Jesu Hochzeit am 18. Mai 1980 im Theater an der Wien einen Theaterskandal entfesselte, der nicht nicht nur in der Lebensgeschichte Gottfried von Einems seinesgleichen sucht, sondern die gesamte kulturelle Szenerie Österreichs in Aufruhr versetzte und somit landesweit eine zeitgenössische Oper zum Tagesgespräch werden ließ – ein Faktum, das in der Geschichte des Musiktheaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein absolutes Rarum darstellt. Vor dem Theater fanden Demonstrationen statt, die Aufführung wurde durch organisiertes Schreien gestört, den ORF, der das Ereignis live übertrug, erreichte eine Flut von Briefen und Protesten, bei den Autoren trafen Schmähbriefe, ja gar Morddrohungen ein. Was war geschehen? Im wesentlichen bewegten sich die Diskussionen um die Frage, ob hier öffentlich geförderte Blasphemie vorliege, ob hier ein Rubikon überschritten worden sei, der das katholische Österreich zum Aufschrei zwinge. Die turbulente Rezeptionsgeschichte von „Jesu Hochzeit“ ist ein Spiegelbild des psychosozialen Klimas der Entstehungszeit.

 

Die Stoffwahl erscheint, neben dem oben zitierten Wunsch des Komponisten nach einem biblischen Sujet, als eine Funktion der Entstehungsgeschichte des Werkes. Es war ein Auftragswerk des "Carinthischen Sommers", bestellt von Helmut Wobisch für die Serie von Kirchenopernaufführungen in der Kirche von Ossiach. Widerstand des Klerus verhinderte diese primäre Zweckbestimmung, und so wurde der Kompositionsauftrag durch die Wiener Festwochen bzw. deren Intendanten Gerhard Freund übernommen. Nicht nur die szenische Konzeption, sondern auch das musikalische Kleid ist in vielen Einzelheiten vom ursprünglich intendierten Aufführungsort bestimmt, der aus Raumgründen lediglich ein Kammermusikensemble zugelassen hätte. Eine prinzipiell kammermusikalische Faktur blieb auch für die Endgestalt der Oper charakteristisch, obwohl Einem die bei ihm übliche Orchesterbesetzung vorschrieb, nur erweitert durch eine Gitarre mit Resonanzverstärker.

 

Ebenfalls auf das Ambiente von Ossiach ist die Konzeption des Textes zugeschnitten; er versteht sich als Fortsetzung einer langen kirchenmusikalisch-szenischen Tradition, die von den Mysterienspielen des Mittelalters bis zu den szenischen Oratorien des Barock reicht, den sogenannten "Sepolcri", in denen zur Fastenzeit die Passionsgeschichte Christi dargestellt wurde, wobei zu den Gestalten der Bibel allegorische Figuren als Akteure hinzutraten. Der vielfach Anstoß erregende Titel Jesu Hochzeit meint ein mystisches Geschehen, die "chymische Hochzeit" Jesu mit der "Tödin", worin sich das Erlösungsgeschehen verwirklicht. Dass diese Verbindung jenseits aller sexuellen Aspekte stattfindet, hätte auch nach flüchtiger Lektüre des Textbuchs jedem klar sein müssen; dennoch entzündete sich der Massenprotest gegen das Werk insbesondere an dieser Titelgebung. Er wurde gewissermaßen zur Chiffre der Provokation und Blasphemie und ersparte die inhaltliche Auseinandersetzung.

 

Im Textbuch zu Jesu Hochzeit liegt keine Handlung im üblichen Sinn vor; das Geschehen entwickelt sich in Form einer Folge in sich abgeschlossener Szenen, die nicht in einem zeitlichen Kontinuum stehen. Die Passionsgeschichte fungiert als dramatisches Grundmuster, aber auch gewissermaßen als Kontrastfolie: da ihre Kenntnis vorausgesetzt werden kann, gewinnen die individuellen Zeichnungen der Dramenfiguren ihr Profil gerade aus dem Spannungsverhältnis zum traditionellen Evangelientext. Darüber hinaus mischen sich unter die biblischen Gestalten allegorische Figuren und gelegentlich verschwimmen die Grenzen zwischen Bibelgestalt und Allegorie, so etwa, wenn sich die Tödin in Judas Ischarioth verwandelt. Die Gestalt der Magdalena wiederum verklammert das biblische Geschehen mit der Gegenwart; Magdalena tritt sowohl als Schwester des Lazarus auf wie auch als Symbol für den Menschen der Gegenwart, wenn sie im rahmenartigen Vor- und Nachspiel die Situation des glaubenssuchenden Zeitgenossen reflektiert.

 

Die Befassung mit der Musik zu Jesu Hochzeit kann nicht an den Analysen Friedrich Saathens3 und Rudolf Kleins4 vorbeigehen, die zeitgleich mit der Premiere veröffentlicht wurden und die Zustimmung des Komponisten erhielten. Beide stimmen in wesentlichen Punkten überein, vor allem in der Betonung der Bedeutung symbolischer Tonarten. Einem bleibt in diesem Werk wie in den vorangegangenen im Rahmen der Dur-Moll-Tonalität, wenngleich diese durch Dur-Moll-Mischungen, bitonale Verschränkungen und pentatonische Elemente individuell angewandt wird. Statt von Tonarten sollte daher besser von Toncharakteren gesprochen werden, tonalen Zentren, die sich eindeutig auf einen Grundton beziehen lassen. Diese Toncharaktere stehen zueinander in Beziehungen, die sowohl dem Spannungsfeld von Tonika, Dominante und Subdominante entsprechen, als auch – und analog dazu – die ideellen Relationen der durch sie symbolisierten geistigen Inhalte verkörpern. Damit ergibt sich eine Reihe von Begriffspaaren, denen jeweils im Quintverhältnis, also in Dominantbeziehung, stehende Toncharaktere zugeordnet sind:

Mensch (D) – Gott als Erlösung (A)

Tod bzw. Tödin (F) – Menschliche Natur (C)

Gott als Erlösung (A) – Jesus (E)

Gott in der Botschaft des Engels (B) – Tod bzw. Tödin (F) etc.

 

Man sieht, dass die Realität Gottes durch zwei verschiedene tonale Zentren symbolisiert erscheint; A-Dur steht für Gott als Ziel aller Existenz und als Erlösung, B-Dur hingegen für die dem Menschen zugewandte Seite Gottes, die Botschaft des Engels, die nicht nur als gnadenvoll, sondern auch als bedrückend und furchteinflößend empfunden werden kann. A und B verkörpern Anfang und Ende; da die Musik kein Analogon zum Buchstaben Omega besitzt, wählt Einem den zweiten Buchstaben des Alphabets. Folgerichtig bestimmen diese zwei Toncharaktere auch Beginn und Ende der Oper, die beiden Magdalena-Szenen, die beide in A-Dur notiert sind, wobei die Schlussszene mit dem Ton B endet. Aus dieser tonalen Doppelgesichtigkeit Gottes ergibt sich weiters ein höchst symbolträchtiges Beziehungsgeflecht zu Jesus (E); Gott als Ziel aller Existenz (A) und Jesus (E) stehen stehen in lapidarer Dominantbeziehung zueinander, während sich zwischen Jesus (E) und der Stimme Gottes durch den Engel (B) die Tritonusspannung auftut, die begreiflich macht, dass der Mensch Jesus nur unter großen Konflikten den Willen Gottes annehmen kann ("Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"). Darüber hinaus weist Saathen mittels eines Strukturschemas sämtlicher neunzehn Szenen der Oper nach, dass hier ein tonaler Gesamtplan waltet, der sich in großräumigen Symmetrien aufzeigen lässt.

 

Auf gleicher semantischer Basis lassen sich auch die beiden Rahmenszenen interpretieren, die Auftritte der Magdalena als "Mensch von heute", die sich in ihrer konsequenten Pentatonik gewissermaßen "musikalisch geschlechtsneutral" geben und damit die grundsätzliche Nicht-Beantwortbarkeit der zentralen Frage "Gibt es Gott?" chiffrieren. Unmittelbar sinnfällig und ohne Parallele im weiteren Verlauf der Oper ist Magdalenas Wechsel von Gesang und Sprechstimme; "musiklos" ist die Artikulation des radikalen Skeptizismus ("Oder hat uns der Zufall erschaffen. Oder löscht der Zufall uns aus.").

 

Das eben gefallene Stichwort "unmittelbar sinnfällig" sei als Anlaß genommen, die analytische Szenerie zu wechseln und die Musik zu "Jesu Hochzeit" aus einer völlig anderen Perspektive zu betrachten. Obwohl es paradox erscheinen mag, sei nun davon die Rede, was Einems Vertonung nicht ist. Eine Opernpartitur geht nicht darin auf, ein Musiktext mit kodifizierter Symbolik zu sein, sie ist auch Theater- und Hörereignis und steht als solche im Kontext der Hörerwartungen und Hörgewohnheiten des Opernpublikums. Diese sind zweifellos durch das Standardreperoire der Opernliteratur geprägt, in der Opern mit im weitesten Sinne verwandter Thematik, also religiöse Sujets, mit einigen sehr charakteristischen und bekannten Werken vertreten sind. Vornehmlich gehören sie der Epoche der Romantik und Spätromantik an; von Webers Freischütz reicht die Kette über Wagners Tannhäuser und Parsifal bis zu Richard Strauss‘ Salome. All diese Werke basieren auf einer religiös fundierten Dichotomie von Gut und Böse (wobei in späterer Zeit Böses und Erotisches konvergieren); gemeinsam ist ihnen auch die prinzipielle musikalische Umsetzung dieser Antithetik. Von Leitmotiven zu sprechen, ist zwar nicht falsch, greift aber zu kurz; adäquater erscheint der Begriff einer "Leitidiomatik", die konsequent eingesetzt wird, um die gegensätzlichen Sphären zu charakterisieren. Über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren hinweg bleiben dabei die eingesetzten musikalischen Mittel von erstaunlicher Konsistenz: Diatonik, Durtonarten, ruhiger Gestus, helle und weiche Instrumentalfarben für die "Welt des Guten" (sei es nun die des Eremiten, der Elisabeth, des Grals oder des Jochanaan), Chromatik, Molltonarten, unruhiger Gestus, dunkle und scharfe Instrumentalfarben für die "Welt des Bösen" (Kaspar, der Venusberg, die Welt Klingsors, Salome). Charakteristischerweise bleiben konservative Komponisten des 20. Jahrhunderts dieser traditionellen musikalischen Antithetik treu (etwa Franz Schmidt im "Buch mit sieben Siegeln").

 

Zurück zu Gottfried von Einem und Jesu Hochzeit. Einems Musik fällt aus der eben skizzierten Tradition heraus, indem sie die einschlägigen Hörerwartungen des Publikums nicht bedient. Dies wäre nun freilich bei einem Werk der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keineswegs erstaunlich, doch gerade Einems Habitus als "C-Dur-Komponist" und seine Befassung mit einer Thematik, in der die Gut-Böse-Antithetik im religiösen Sinne im Mittelpunkt steht, ließe einen Anschluß an traditionsvermittelte "Leitidiomatik" erwarten. Dies ist nun insbesondere in der musikalischen Zeichnung der Tödin nicht der Fall, der zumeist die Dur-Sphäre zugewiesen ist, während Jesus großteils durch E-Moll-Harmonien gekennzeichnet ist. Dass die Charakterisierung der Ideenträger der Oper mittels Tonarten bzw. Toncharakteren auf höchst stimmige Weise durchgeführt ist, läßt sich der Partitur entnehmen; ob dieses – im Vergleich mit romantischer Klang- und Gestiksymbolik – sehr subtile Verfahren vom Publikum adäquat verstanden wird, ist eine andere Frage. Insofern also haben Text und Musik dieser Oper ein Charakteristikum gemeinsam: beide gehen von traditionell vermittelten Erwartungshaltungen aus, denen die traditionellen Konsequenzen und Erfüllungen versagt werden. Gerade Jesu Hochzeit ist ein Beispiel dafür, dass mitunter unvertrautes Agieren innerhalb des Vertrauten verstörender wirken kann als der radikale Traditionsbruch.   

 

 

Dieser Beitrag ist die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen des Internationalen Gottfried von Einem Kongresses 1998 in Wien.

 



  1. Gottfried von Einem: Ich hab‘ unendlich viel erlebt. Aufgezeichnet von Manfred A. Schmid. – Wien 1995. S. 295
  2. Lotte Ingrisch im Programmheft zur Wiener Uraufführung von „Jesu Hochzeit“. In: Pro und Kontra Jesu Hochzeit. Dokumentation eines Opernskandals. Hrsg. v. Margret Dietrich u. Wolfgang Greisenegger. – Wien 1980 (Maske und Kothurn; Beiheft 3). S. 153
  3. Friedrich Saathen: Mysterium Oper Poem. Gottfried von Einem musikalische Parabel von Liebe und Tod. In: Programmheft der Wiener Uraufführung von „Jesu Hochzeit“. – Wien 1980
  4. Rudolf Klein: Gottfried von Einems Oper „Jesu Hochzeit“. Zur Uraufführung der Wiener Festwochen. In: Österreichische Musikzeitschrift, Jg. 35 (1980), H. 4-5 (April-Mai), S. 189-199