Vermittlung Magazin

Tri Sestri – eine Hommage

oder: Peter Eötvös zum Geburtstag

ESSAY
Gabriele Wiesmüller

Regisseurin, von 2009-2013 Operndirektorin des Theater Koblenz.

http://www.gabriele-wiesmueller.de

 

I. Protect me from what I want** – oder: vom Drama des modernen Menschen

 

Wer sich auf die Suche nach gegenwärtigen Themen in zeitgenössischen Musiktheaterwerken begibt, wird früher oder später die Werke Peter Eötvös’s durchforsten und sich dabei insbesondere den Tri Sestri zuwenden. Dem gleichnamigen Schauspiel von Anton Tschechow folgend und 1998 in Lyon uraufgeführt, war die Oper ursprünglich in allen Partien für Männerstimmen komponiert. Für die Aufführung in Düsseldorf ein Jahr später hat Peter Eötvös in den Partien der Schwestern und Nataschas einer Besetzung der Männerpartien durch Frauen zugestimmt und damit eine Realisierung auch für Theater mittlerer Größenordnung möglich gemacht.

Betrachtet man die Eingriffe, die der Komponist in Tschechows Drama vorgenommen hat, erweist sich diese Änderung der Uraufführungsfassung als wichtige Entscheidung – besonders im Hinblick auf die erschütternde Zeitlosigkeit des Hauptthemas: dem Unvermögen des modernen Menschen, glücklich zu sein. Es geht um nichts weniger, als die „Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, den Widerspruch von verwegnen Zukunftsträumen und Realität, die Reibung zwischen Maßlosigkeit des Begehrens und dem Gefangensein im Ist-Zustand.“* Und damit geht es um die Frage, warum  Menschen in einer so tief sitzenden Angst vor Veränderung gefangen sind und vorziehen im Zustand der Unzufriedenheit zu verharren, als scheinbare Sicherheiten aufzugeben.

 

 

II. Future is stupid** – oder: von der glücklichen Verbindung zwischen Vorlage, Libretto und Komposition


Beim Reflektieren darüber, was mich mit den Tri Sestri so nachhaltig verbindet, bin ich immer wieder verblüfft, wie stark mir sowohl Atmosphäre als auch Thema der Oper präsent sind, wie gegenwärtig mir die Musik ist.

 

Da ist zunächst das Thema: Durch die Gleichzeitigkeit des Festanlasses von Namens- und Todestag zu Beginn des Schauspiels, ist die Rückwärtsgewandtheit der Schwestern bei Tschechow als Konflikt in der Gegenwart zwar spürbar, aber nicht zwangsläufig oder unveränderlich. Eötvös verdichtet diese Ausgangssituation, indem er die Schwestern mit Textabschnitten aus dem letzten Akt des Dramas bereits im Prolog beginnen lässt. So folgt man den einzelnen Protagonisten in die spiralenförmige Welt ihrer Zwänge und Ängste, ihrer Mutlosigkeit und ihrer Beschäftigung mit dem eigenen unerfüllten Begehren und ahnt: eine andere Form an Bewegung wird es für sie nicht geben.

 

Die Form: Tschechow entwickelt sein vieraktiges Drama über einen Zeitraum von vier Jahren. Peter Eötvös formt den Stoff für das Musiktheater in einen Prolog und drei Sequenzen um. Anstelle der im Drama sich chronologisch entwickelnden Familiengeschichte bearbeitet der Komponist jedoch dreimal die gleiche Geschichte aus der Perspektive eines jeweils anderen Familienmitglieds – zunächst Irinas, dann Andrejs und schließlich Maschas. Zeit erscheint damit plötzlich nicht mehr als lineare Entwicklung, sondern kreisförmig und in sich geschlossen.

 

Der musikalischer Raum: In Tschechows Drama wird viel gesprochen und wenig Neues gesagt. Veränderungen reduzieren sich auf wenige Sätze und ereignen sich oft gerade in den Auslassungen, wie den bei Tschechow zwischen den einzelnen Akten liegenden Zeitsprüngen. Genau hier setzen Libretto und Komposition der Oper an. Die augenscheinlich wortreich sprachlose Welt der Tschechow-Figuren transformiert in der Komposition zur Welt des Klangs. Sei es Soljonys karge, an ein Löwengebrüll gekoppelte Liebeserklärung an Irina, seien es die Einbrüche der Außenwelt in Form des großen Hinterbühnenorchester, das wie eine riesige Woge in die Welt der Geschwister hereinbricht, oder sei es jenes einsame Akkordeon des Prologs, das leerer und erloschener nicht klingen könnte.

 

 

III. Your oldest fears are the worst ones** –  oder: vom Ausbleiben der Utopie


Es sind die Dreiecks-Konstellationen, die den Komponisten im Beziehungsgeflecht der Protagonisten interessieren: der schwache und wenig begabte Andrej zwischen seiner aufstiegshungrigen Frau Natascha und seinen, sich an seine universitäre Karriere klammernden drei Schwestern. Die unglücklich verheiratete Mascha zwischen ihrem Mann Kulygin und ihrem ebenfalls verheirateten Liebhaber Werschinin, dem sie ihre Rettung überantwortet. Und schließlich Irina, gefangen zwischen Soljony, dem Mann, der sie fasziniert und ihr gleichzeitig durch sein unverhohlenes Begehren Angst einjagt und Baron Tusenbach, jenem freundlichen Freund, der seinem Leben Sinn zu geben versucht und Irina dabei so durchschnittlich erscheint, dass er ihrer Idealvorstellung vom Abenteuer Leben einfach nicht entspricht.

Bei Olga schließlich laufen in Eötvös’ Musiktheaterwerk alle Fäden zusammen. Sie versteckt ihre rigide Zustands-Politik hinter einem schier endlosen Verständnis. Bis diese Oberfläche im Konflikt mit Mascha brutal aufbricht. Dieser kleine und musikalische so schmerzlich ariose Moment ist eine der berührendsten Szenen innerhalb des Werks und eröffnet die ganze Dimension von Olgas Seelenqual: „Es geht mir gut, doch wäre ich verheiratet, oh, da könnte ich zuhause bleiben, es ginge mir besser. Ich würde meinen Mann lieben.“***

 

In der Oper von Peter Eötvös ist das Scheitern von Beginn an einkalkuliert, beinahe wie eine Rechtfertigung dafür, dass man es gar nicht erst probiert hat mit dem Glück. Was sich bei Tschechow hinter den Gewohnheiten der Konvention und vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Niedergangs einer Epoche verschleiern will, wird bei Eötvös als Scheitern der einzelnen Geschwister und ihrer Verstrickungen mit sich, ihren Ängsten und den Beziehungsgeflechten gnadenlos freigelegt und in vollem Bewusstsein  ausgelebt. Jede Figur benennt ihr Unglück überraschend einsichtig. Keiner gelingt es, der Erkenntnis praktisch eine glückliche Wendung zu geben. Eine nüchterne Bestandsaufnahme eines verblüffend gegenwärtigen Zustands. Ich wünschte mir im Musiktheater mehr davon.

 

 


 

  • * Zitat Michael Dißmeier, in: Originalbeitrag Programmheft TRI SESTRI, Theater Koblenz, 2009/10

  • ** Truisms der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer

  • *** Zitat aus: No. 25