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2/2014 Shakespeare im zeitgenössischen Musiktheater
© Bregenzer Festspiele/Karl ForsterAndré Tchaikowsky – Die tägliche Mühe ein Mensch zu sein
Erzählt und herausgegeben von Anastasia Belina-Johnson
REZENSION
Constantin Stimmer
Kompositions- und Musiktheoriestudium am Mozarteum Salzburg. Derzeit Masterstudium an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.
"Der Tchaikopath ist wieder da!"
Nicht oft erleben wir Musiker, die neben Ihrer Konzerttätigkeit die Zeit finden, originäre Kompositionen zu verfassen. Permanent unter immensen Zeitdruck zu stehen, den nächsten Klavierabend, das nächste Konzert oder die nächste Tournee vorzubereiten, reduziert sich das Leben mitunter sehr häufig auf eine Eindimensionalität zwischen Druck der Manager und der Prämisse, zum Vergnügen des Konzertpublikums in ihrer Gier nach Stars immer der Beste/die Beste zu sein.
Vereinzelte Ausnahmen wie der türkische Fazil Say (*1970), der uns ein bereits beachtliches Oeuvre schenkte, oder Glenn Gould, der u.a. ein Streichquartett und Stücke für Klavier schrieb, bestätigen die Regel, welch immense Mühe es kostet, sich neben dem Konzertbetrieb dem Musikschreiben zuzuwenden. Umso absurder klingt es da, dass ein gewisser André Tchaikowsky (1935-1982) es zu einer ganzen Oper brachte, deren Bedeutung und Relevanz noch kaum erkannt wurde.
Genau dieser Tchaikowsky, nicht zu verwechseln mit seinem 100 Jahre älteren Namensvetter, berühmter Pianist, von den großen Impresarios gelobt und gefördert und dennoch immer ein zwischen den Welten Gebliebener, hat die junge Musikwissenschaftlerin, Autorin und Musikerin Anastasia Belina-Johnson in dem 2013 bei Wolke erschienen Buch eingefangen bzw. portraitiert. Dank zahlreicher erhaltener Tagebücher Tchaikowskys, die das Zentrum des Werks darstellen, wird dem Leser ein Künstler nahe gebracht, dessen Genialität, Intellektualität aber auch psychische Komplexität kaum bekannt ist und doch so nah erscheint. Seine Tagebücher eröffnen eine Wirklichkeit fernab vom Starkult, von Profilierung oder hartem Business, sondern zeigen einen grandiosen Pianisten als nicht minder talentierten Komponisten – geplagt von inneren Konflikten und Problemen – dessen Vermächtnis gewiss noch in den musikgeschichtlichen Diskurs eingehen wird.
Am 1. November 1935, vier Jahre vor der unendlichen Tragödie, die sich durch die Invasion der Deutschen Wehrmacht in Polen ereignete, kam Robert Andrzej Krauthammer, jüdisch-polnischer Abstammung, in Warschau zur Welt. Der Großmutter war es zu verdanken, dass der Junge die Kriegswirren und das Warschauer Ghetto überlebte. In einem Schrank als Versteck untergebracht, ertrug er die Qualen einer verbotenen Identität. Die Mutter verlor er an die Nazis, der Vater verschwand ins Ausland.
Diese traumatischen Erlebnisse formten ihn, prägten Charakterzüge aus, die ihn als Erwachsenen zu einer höchst bipolaren Person machten. Hinzu kam noch die Homosexualität, die ihm viele seelische und emotionale Bürden auferlegte.
Doch das ist nur ein Aspekt. Vielmehr sind es sein Vermächtnis sowie seine herausragenden Fähigkeiten als Musiker, die André Tchaikowsky zu so einem bemerkenswerten Menschen machten.
Noch im Kindesalter als Jungstudent, 1945 in Polen, begann er zu komponieren. Bereits mit 13 Jahren trat er das erste Mal als Pianist auf. Der Stellenwert, den das Komponieren für ihn einnahm, wurde schon früh und in großer Qualität für die Zeitzeugen erkennbar. Auch entwickelte sich sein apartes Talent zum Schreiben während der Studienzeit; eine Fähigkeit, die der Nachwelt viele literarisch wertvolle Textzeugnisse in Form von Briefen und Tagebüchern bescherten.
André Tchaikovskys Wahlheimat war England. England gab ihm Stabilität und das Theater, das er so liebte.
Als etablierter Konzertpianist verdiente er sich das Geld, das er benötigte, um sich zwischen den Tourneen seiner Leidenschaft, dem Komponieren, zu widmen. Oder sollte man sagen, zu verschreiben? Bis zu seinem Tod herrschte in André eine unerträgliche Spannung. Komponieren oder Spielen? Er selbst sah sich mehr als ersteren, konnte aber ohne zweites nicht sein. Wie in einem ewigen Kampf, der nicht gewonnen werden kann, versuchte er beides in sein Leben zu integrieren.
Aus diesem Kampf resultierten musikalische Werke höchster Dichte und Komplexität, deren ästhetische Dimension kaum verstanden wurde; ein überschaubares Oeuvre zwar, aber dennoch voll großer und kleiner Diamanten. Neben zahlreichen Werken für Klavier, Kammerensembles und Konzerten, entstand die erste und einzige Oper Der Kaufmann von Venedig auf Basis der gleichnamigen Komödie Shakespeares aus dem Jahre 1596. Über einen Zeitraum von fast 25 Jahren begleitete Tchaikovsky das Werk, ließ ihn Nächte lang orchestrieren, komponieren, leiden und verzweifeln, jubeln und frohlocken. Umso tragischer ist es, dass diese Oper von der ENO (Englisch National Opera) nicht genommen wurde. So blieb die Oper seit ihrer Vollendung im Jahr 1980 30 Jahre lang nicht aufgeführt, bis sie endlich am 18. Juli 2013 bei den Bregenzer Festspielen die ersehnte Uraufführung bekam. Der Kaufmann von Venedig ("The Merchant of Venice") von André Tchaikowsky zählt zu den bedeutendsten Behandlungen eines Shakespeare-Stoffs im 20. Jahrhundert. Vielleicht ist sie auch die beste.
Dank der feinen Vorauswahl der Tagebucheinträge durch Anastasia Belina-Johnson lassen sich die Spannungsfelder bzw. inneren Konflikte, in denen sich André befindet – zwischen Liebe, Arbeit, psychischer Belastungen, dem Geschäft als Pianist und der eigenen Vergangenheit – eindrucksvoll rezipieren. Der Leser wird intensiv in die Gedankenwelt Tchaikowskys geführt, die geprägt ist von Selbstzweifel, Depression, aber auch beinahe britisch schwarzem Humor, präziser und teilweise erkenntnishafter Selbstreflexion.
Die von Belina-Johnson ausgewählten, bisher unveröffentlichten Tagebucheinträge erzählen die zentralen Jahre Tchaikowskys Leben, die Zeit der sich anbahnenden Krankheit, der Fertigstellung der Oper, der intensivsten Zeit hemmungsloser Selbstkritik und psychologischer Selbstobduktion, in den Jahren von 1974 bis zu seinem Tod 1982.
Dank einer offensichtlich behutsamen redaktionellen Aufbereitung der Tagebucheinträge durch die Herausgeberin zusammen mit der Übersetzung ins Deutsche durch Wolfram Boder, einem versierten Musikwissenschaftler und Autor, konnte die sprachliche Atmosphäre in der Wortwahl Tchaikowskys gut eingefangen werden. Bis auf einige kleinere Witze, die aus dem Englischen kaum adäquat übersetzt werden können, liefern die Tagebücher eine einheitliche, charaktervolle sowie mit Zusatzinformationen der Herausgeberin in Form von Fußnoten kommentierte literarische Ebene, die deutlich zum Ziel hat, sowohl Laien als auch Spezialisten zu erfreuen. Was sich in allen Tagebüchern durchwegs bemerkbar macht, ist die hohe sprachliche Qualität und Wortwahl, die Tchaikowsky im Englischen vorgelegt hat. Sie in ein vergleichbares Deutsch zu überführen, gibt an manchen Stellen der Satzbau preis, was aber der Stringenz nichts anhat. Die zuweilen überaus komplexen Gedanken Tchaikowskys zentraler Tagebucheinträge finden aber in der Übersetzung ein exzellentes Äquivalent.
Tchaikowskys Belesenheit, hohe Bildung und Fähigkeiten in Fremdsprachen, brachten den Tagebüchern ein gehöriges Maß an französischen und deutschen Zitaten aus berühmter Literatur ein, deren frappierende Intellektualität in wissenschaftlichen Sachbüchern seines gleichen sucht.
Im Grunde ziehen alle Tagebucheinträge Belina-Johnsons Auswahl am gleichen Strang. Die Chronologie der Ereignisse, versetzt mit Einträgen selbstreflektierender Innenschau, führen zu einer narrativen Ebene bzw. einem roten Faden, der die Empathie, Spannung und Erwartung forciert. Vereinzelte, eher kürzere Einträge tragen allerdings nicht zum Informationsfluss oder besseren Verständnis bei, hätten demnach auch entfallen oder durch interessantere Anekdoten ersetzt werden können. In Bezug auf die musikgeschichtliche Verantwortung Tchaikowskys gegenüber, Einblick in seine Gedankenwelt zu gewähren, sind auch kleinere Randereignisse nicht als Narrationsblockade zu werten. Zentral ist vor allem das Bild, das der Leser von Tchaikowsky unweigerlich bekommt. Das gewähren die Einträge ab 1978 mit alterierter Intensität.
Anastasia Belina-Johnson, selbst ein führendes Mitglied des Leeds College of Music, Musikerin, Dozentin und Autorin, schaffte mit ihrem Buch, das sich aus anstrengenden Recherchen, Interviews mit Zeitzeugen und Freunden Andrés, Studium der Tagebucheinträge und anderen Quellenmaterials wie Briefe oder Kritiken zusammensetzte, ein umfangreiches sowie gelungenes Portrait. Es ist eine Kombination aus musikwissenschaftlicher Literatur (eine ausgearbeitete Biografie und Werkregister sowie Einordnung umrahmen die Tagebücher) und den zum Teil prosaisch intimen Einblicken in Tchaikowskys durchrüttelte Psyche.
Obwohl es bereits vor Belina-Johnsons Arbeit eine Biographie aus dem Jahre 1992 gab, erzeugen die Erkenntnisse über Tchaikowsky, die sie zu Tage führt, ein umfassenderes, lebendigeres Bild eines Menschen, der noch zu wenig bekannt ist. Mit Belina-Johnsons Werk ist aber bereits ein erster Schritt in Richtung einer echten Rezeption gelungen.
Sehr häufig sind Komponisten ihrer Zeit voraus, sind anachronistisch. Dank der verstärkten Aufarbeitung des Holocausts, des steigenden Interesses an Komponisten jüdischer Herkunft und ihren Identitätskonflikten sowie an Nachkriegsmusikern jüdischen Hintergrunds mit teilweise ähnlich schrecklichen Erfahrungen, kann man einen Trend in der historischen Musikwissenschaft sehen, der Menschen wie André Tchaikowsky eine neue Chance, posthum zu Bekanntheit und Ehre zu gelangen, verhelfen kann. Das Buch selbst wartet mit dokumentierenden Fotos sowie Abdrucken einzelner Seiten seiner Manuskripte auf, was das Lesevergnügen nochmals steigert.
Fazit: Mit Anastasia Belina-Johnsons Beitrag über diese bemerkenswerte Persönlichkeit, André Tchaikowsky, ist eine Sicht auf einen Menschen mit vielschichtigen Talenten gelungen, der mit seiner "täglichen Mühe ein Mensch zu sein" berührt. Die Musik ist seine innere Sprache, die Komposition seine Passion.
"Arbeit ist mein Leben. Sie ist das einzige Gebiet im Leben, auf dem ich jemals gut sein kann." (André Tchaikowsky, 1974).