Vermittlung Magazin

Zur Aktualität von Shakespeares Sturm im Musiktheater

ESSAY
Caroline Lüderssen

Studium der Anglistik, Italienischen Philologie und Musikwissenschaft. Promotion an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main. Habilitation an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Italienische Literatur der Gegenwart, Migrationsliteratur, Musiktheater.

William Shakespeares letztes Drama The Tempest – Der Sturm (1611) ist mit Abstand dasjenige unter seinen Stücken, das seit Henry Purcells Adaption (1695) am meisten Werke für das Musiktheater inspiriert hat.1 Auch bei zeitgenössischen Komponisten scheint sich dieser Trend fortzusetzen. Aus jüngster Zeit sind zu nennen The Tempest (2004) von Thomas Adès2und Prospero (2006) von Luca Lombardi. Auch Peter Greenaways monumentales Filmspektakel Prospero’s Books 1991 mit Musik von Michael Nyman gehörte in diesen Kontext. Was macht das Stück so interessant für die Umarbeitung in eine zeitgenössische Komposition?

Da ist zum einen der Stoff. Die Geschichte handelt von Prospero, dem exilierten Herzog von Mailand, dessen Thron von seinem Bruder usurpiert wurde, der mit seiner Tochter Miranda auf dem Meer ausgesetzt wird und auf einer Insel strandet und nach zwölf Jahren Gelegenheit schafft, sich an seinen Widersachern zu rächen, sich dann aber mit ihnen versöhnt - dieser Stoff bringt Grundkonflikte der menschlichen Gesellschaft auf die Bühne. Zunächst das Thema Herrschaft: Nicht nur die Handlungen gegen Prospero, sondern auch seine eigenen Handlungen sind hier von Bedeutung: Er hat sich durch Zauberei die Insel, die von dem "Wilden" Caliban, dem Sohn der Hexe Sycorax bewohnt wird, untertan gemacht und Caliban versklavt; der Luftgeist Ariel, den Prospero bei seiner Ankunft aus einem Baum befreite, ist ihm dafür aus Dankbarkeit zu Diensten, steht in einer Art Abhängigkeitsverhältnis; Prospero ist schließlich für seine Tochter Miranda ein liebender und fürsorglicher, aber auch dominanter Vater. Er beherrscht die Instrumente der Macht meisterlich – der Anglist Klaus Reichert hat diesen Machtwillen in einem Aufsatztitel zugespitzt: "Prospero als Leser Machiavellis".3 Der "Machiavellismus" Prosperos zeigt sich laut Reichert in seinem Umgang mit Fortuna, der Glücksgöttin, die in den Renaissance-Poetiken eine so große Rolle spielte. Fortuna ist "The Tempest", und Prospero geht mit ihr um wie mit einer Geliebten: "By accident most strange, bountiful Fortune, / (Now my dear lady) hath mine enemies / Brought to this shore." (I. Akt, 2. Szene, Vers 178 ff.: "Durch einen höchst sonderbaren (außerordentlichen) Zufall hat die freizügige Fortuna (jetzt meine teure Lady) meine Feinde an diesen Strand geführt").4 Das Thema der Fortuna und der Umgang mit ihr sind mit dem Thema der Magie eng verbunden. Der Zauberer Prospero weiß um den Unterschied von weißer und schwarzer Magie, und die Grenzen zwischen den beiden Formen sind nicht immer trennscharf. Die Ambivalenzen der Figuren zeigen das deutlich: Prospero ist auch autoritär und herrschsüchtig, Caliban ist auch ein zartfühlender Unterdrückter, dem man übel mitgespielt hat. Man denke an seine Beschreibung der Insel gegenüber den lustigen Gesellen Stefano und Trinculo, die ihn, in betrunkenem Zustand, zu ihrem König erklären:

 

[Caliban]

Be not afeard; the isle is full of noises,
Sounds and sweet airs, that give delight and hurt not.
Sometimes a thousand twangling instruments
Will hum about mine ears, and sometime voices
That, if I then had waked after long sleep,
Will make me sleep again: and then, in dreaming,
The clouds methought would open and show riches
Ready to drop upon me that, when I waked,
I cried to dream again.

 

"Sei nicht in Angst! Die Insel ist voll Lärm,/Voll Tön' und süßer Lieder, die ergötzen/Und niemand Schaden tun. Mir klimpern manchmal/Viel tausend helle Instrument' ums Ohr,/Und manchmal Stimmen, die mich, wenn ich auch/Nach langem Schlaf erst eben aufgewacht,/Zum Schlafen wieder bringen: dann im Traume/War mir, als täten sich die Wolken auf/Und zeigten Schätze, die auf mich herab/Sich schütten wollten, daß ich beim Erwachen/Aufs neu' zu träumen heulte." (III. Akt, 2. Szene, Verse 133-141) (Übersetzung A.W. Schlegel).

 

Die Textstelle zeigt auch, welche Assoziationen mit dem Schauplatz, der namenlosen Insel, verbunden sind: Voller Geräusche ist sie, und tausend Instrumente summen ein universelles Lied. Calibans poetische Rede überrascht bei einer Figur, die als "abhorred slave" als "brave monster" (I. Akt, 2. Szene, Vers 353; II. Akt, 2. Szene, Vers 188) eingeführt wird und der Zivilisation entgegensetzt sein soll. Die Ambivalenz dieser Figur ist ebenso wie diejenige Prosperos ein verstörendes Element, das zu einer Bearbeitung reizt, weil sich hier Auslegungsfreiheiten ergeben. Die von Caliban genannten „noises“ und „instruments“ werden auf Handlungsebene von Ariel, dem Luftgeist, produziert. Musik ist ein elementarer Bestandteil des Stücks, die genannte Textstelle Calibans wird ummantelt von Ariels Musik: Er imitiert den Gesang Stefanos und Trinculos. An anderer Stelle bestimmen die Lieder Ariels dem Fortgang und spiegeln die Stimmungen der Figuren wider: "Come unto these yellow sands" (Ariel lockt den schiffbrüchigen Prinzen Ferdinand in die Nähe von Prosperos Hütte), "Full fathom five / your father lies" (Ariel besingt Ferdinands toten Vater) und "Where the bee sucks, there suck I."(Ariels Bekenntnis zur Natur)5

 

Weiter tragen genuin opernhafte Elemente im Stück dazu bei, dieses für eine Vertonung als besonders geeignet zu betrachten: Die Konnotationen des Fantastischen, des Übersinnlichen, die Zauberei, der Schauplatz einer magischen Insel, die starken Gefühle einer eher handlungsarmen Geschichte6 (es geht um Leben und Tod, um Liebe, um Herrschaft und Zerstörung, um Wiederherstellen einer Ordnung, um Verzicht), schließlich die Figuren.7

Zwei ganz unterschiedliche Ansätze der Umsetzung von The Tempest im Musiktheater, die auch zwei verschiedene Komponistengenerationen betreffen, seien im folgenden näher betrachtet:

The Tempest von Thomas Adès (2004)8 und Un re in ascolto (Ein König horcht) von Luciano Berio (1984)9. Die beiden Beispiele machen deutlich, wie vielfältig und aktuell das Shakespeare’sche Stück nicht nur im Hinblick auf die Ästhetik des Musiktheaters, sondern auch die thematischen Konnotationen noch heute ist.

Beginnen wir mit dem früheren Werk: Im Jahre 1984 hat Luciano Berio in Un re in ascolto Motive aus Shakespeares Sturm verarbeitet.10 Freilich nur Motive: Die Handlung entstand in enger Zusammenarbeit mit dem italienischen Schriftsteller Italo Calvino.11 Dieser hat eine Szenerie um einen "König, der horcht" entworfen, die zur Grundlage für ein Libretto wird, das zahlreiche Einflüsse aus Shakespeares Stück und aus anderen Texten aufnimmt. Der König trägt auch im Calvinos Entwurf den Namen Prospero.12 Die Haupttexte, die Berio im Libretto verarbeitete, sind ein Singspiel nach Shakespeare von Friedrich Wilhelm Gotter mit dem Titel „Die Geisterinsel“, das 1797 in Schillers Zeitschrift "Die Horen" erschien, sowie einen poetischen Kommentar zum Sturm, den W.H. Auden 1953 mit dem Titel The Sea and the Mirror veröffentlichte.13

 

Gotters Singspiel reduziert die Handlung des Sturm auf drei Akte und schafft durch kleine Modifizierungen der Figurenkonstellation eine verdichtete Situation, in der das Liebespaar Miranda-Ferdinand (bei Gotter Fernando genannt) als abgekoppelte Handlung betrachtet werden kann und die Nebenhandlungen reduziert sind. Außerdem treten die "Geister der Insel"auf. Der politische Kontext der Handlung wird unbedeutender gegenüber dem Shakespeare‘schen Text. Im Singspiel wird das Stück gewissermaßen umgewandelt in eine Vorlage für ein naturalistisches Spektakel. Dazu passen auch die zahlreichen detaillierten Beschreibungen der Szenerien und der Kostüme.

Der Kommentar W.H. Audens ist ein kompliziertes Gebilde, was Genre und Sprache betrifft. Der Titel The Sea and the Mirror bezieht sich auf den Gedanken der Kunst als Spiegel des Lebens, das als "Meer von Möglichkeiten" gesehen wird.14 Es ist eine Sammlung von Monologen, die polyphon nebeneinander stehen und eine Art "Nachlese" der Handlung des Stücks darstellen, "nachdem der Vorhang gefallen ist". Im Vorwort (Preface) spricht der Stage Manager zu den Kritikern, im ersten Teil spricht Prospero zu Ariel (und gibt ihm seine Freiheit wieder), im zweiten Teil sprechen die Nebenfiguren darüber, wie die Ereignisse sie verändert haben, schließlich wendet sich im dritten und letzten Teil Caliban an das Publikum. Das Sprach-Register der verschiedenen Teile ist jeweils unterschiedlich, bemerkenswert ist vor allem der dritte Teil, der in einer hoch komplexen Sprache im Stile von Henry James verfasst ist.

 

Ein dritter wichtiger Anknüpfungspunkt für die Arbeit an Un re in ascolto ist "das Konzept des Hörens". Hier kommt die Zusammenarbeit mit Italo Calvino zum Tragen. Dieser bezieht sich in seinen Texten auf den Eintrag "Ascolto"(Hören), den Roland Barthes und Roland Havas in der 1977 erschienenen Enciclopedia Einaudi publiziert hatten, und in dem sie Hören (udire) von Zuhören (ascoltare) unterscheiden. Das Hören wird in der Funktion von Alarm und von Verstehen von Botschaften interpretiert, das Zuhören jedoch ist ein intersubjektiver Akt, eine Hin- und Her-Bewegung, die die (Hör)-Beziehung zweier Menschen gestaltet.15

In Berios Text kommen die Text- und Handlungselemente aus Shakespeares Sturm, dem Singspiel, dem Kommentar von Auden, dem Lexikoneintrag über das Hören und aus Calvinos Umarbeitungen zu einem fragmenthaften Text zusammen, der über das Theater reflektiert16 und gleichzeitig in der Figur des Prospero eine tiefe Lebenskrise inszeniert, die mit dem Tod des Protagonisten endet.

Die Struktur des Librettos knüpft dabei scheinbar an traditionelle Modelle an: Es gibt zwei Teile, es gibt Arien, Duette, Ensemble-Szenen. Die zahlreichen Textbezüge sprengen die Handlung auf: Es gibt verschiedene Stoff-Assoziationen, und wenn man versucht, eine Handlung zu konstruieren, so ergibt sich etwa folgendes: Prospero ist Direktor eines Theaters. Er befindet sich in einer Krise, was die Theater-Konzeption betrifft, er streitet mit dem Regisseur darüber, reflektiert über ein "anderes Theater". Es werden verschiedene Vorsingen durchgeführt, gleichzeitig wird schon geprobt. Prospero erleidet einen Schwächeanfall; im zweiten Teil tritt eine weibliche Hauptfigur auf, die "Protagonista", die von Prospero Abschied nimmt, die Oper endet mit seinem Tod. Prospero und der Regisseur sind komplementäre Charaktere, die die Fragen nach dem "neuen Theater", nach dem "neuen Hören" dialektisch diskutieren. Der ganze Text ist gewissermaßen auf drei Reflexionsebenen gestaltet: Dem Denken Prosperos, dem realen Theater (auf der Bühne) und dem geprobten Stück. Die vielfältigen Assoziationen, die Fragmenthaftigkeit des Textes stehen einer linearen Handlungsinterpretation zusätzlich entgegen.17 Der Text wirkt wie ein Kaleidoskop, in dem sich die Überlegungen über das Theater, über Formen des Theaters ebenso reflektieren wie die in der Handlung aufscheinenden existentiellen Fragen über Leben und Tod. Interessant ist zudem die Rolle des „"Venerdì", die Transformation des Caliban, die Berio mit einer Assoziation an Defoes Robinson Crusoe ausstattet und in ironischer Brechung als eloquente Sprechrolle gestaltet.

 

Berio, der große Meister des zeitgenössischen Musiktheaters18, der die Meinung vertrat, dass man nie etwas ganz Neues schaffen kann als Komponist, sondern immer auf der Tradition aufbaut und sich mit ihrer auseinandersetzt, hat mit Un re in ascolto ein Werk geschaffen, das die Opernbühnen bis heute beschäftigt. Der italienische Musikkritiker Massimo Mila hat das Werk als "vera opera", als richtige Oper, bezeichnet. Die genannten Textvorlagen sind im Libretto jedoch so fragmenthaft verarbeitet, dass sie einem unbefangenen Zuschauer nicht vor Augen stehen. Der Grundkonflikt des Sturm, die Fragen nach Identität und Herrschaftsanspruch, nach Todesangst und Todessehnsucht bzw. der Fähigkeit zum Altern, übersetzt Berios Text in eine auf das Theater selbst bezogene offene Form, die Freiheit zur Interpretation lässt. Das Shakespeare’sche Stück mit seinem Figuren-Tableau spielt auf der Ebene des Werks eine untergeordnete Rolle, ist sozusagen aus dem "Off" – allein schon durch den Namen Prospero - wahrnehmbar, als Erinnerung und Projektionsfläche für den aktuellen Konflikt.

 

Anders verfährt Thomas Adès in seiner Oper The Tempest von 2004, eine "Opera in 3 acts", und damit im Gegensatz zu Berios "Azione musicale" eine eher klassische Form. Thomas Adès gilt als einer der profiliertesten britischen Komponisten nach Benjamin Britten, er ist Leiter des Aldeburgh-Festivals, das Britten gegründet hat, gewesen. Simon Rattle hat ihn sehr gefördert. The Tempest ist sein zweites Werk für das Musiktheater.

Das Original-Libretto stammt von der australischen Theaterschriftstellerin Meredith Oakes und bezieht sich ausdrücklich auf Shakespeares Drama. Wir haben es also mit einem traditionellen Libretto zu tun, anders als bei Berio, der weder die Collagetechniken Nonos noch die Formen der Literaturoper aufgreift, sondern seinen eigenen Weg der Zusammenfügung von Quellen und Texten verfolgte. Oakes‘ Text arbeitet Textteile der Vorlage in einem Stil um, der stark mit Reimen, Assonanzen und Repetitionen arbeitet. Es gibt auch Refrainartiges. Dies imitiert und eliminiert zugleich Shakespeares sprachliches Raffinement, oder spitzt es gewissermaßen zu für die Vertonung. Versatzstücke aus Shakespeares Original bleiben im Text erhalten. Im Ganzen entfernt sich der Text aber doch erheblich von Shakespeares Original: Die virtuosen Wechsel zwischen Vers und Prosa, zwischen hoher Poesie und derber Komik werden vereinheitlicht, um der Umsetzung in Musik Raum zu geben. Der Librettotext fördert damit entscheidend den Versuch, Shakespeares Drama in allen seinen Facetten in der Musik zu zeigen. Die inhaltlichen Zentren des Stücks – politische, familiäre und soziale Machtkonstellationen auf der einen Seite und der Gegensatz  zwischen Natur und Zivilisation auf der anderen – werden in ihrem Text gebündelt. Die dramaturgische Klammer ist die Magi, die "magic isle", die Prospero mit Hilfe Ariels belebt und bewegt. Dieser magische Raum wird in der Oper von Adès musikalisch besetzt, während Berio eher intellektuell an den Stoff herangeht und den Raum der Insel in ein Theater verwandelt.

 

Wie das Stück Shakespeares beginnt The Tempest mit einem (hier musikalisch vergegenwärtigten) Sturm, dem Schiffbruch und der darauffolgenden Szene zwischen Prospero und seiner Tochter Miranda. Die Umsetzung des Dialogs wird im Libretto in einprägsamen Reimen, mit wiederholten Phrasen und starker Präsenz von Assonanzen gestaltet. Teile des Textes sind Shakespeares Vorlage entnommen. Was in der parallelen Szene (I. Akt, 2. Szene) bei Shakespeare immer beeindruckt, ist die Ambivalenz des Verhältnisses von Vater und Tochter, die sprachlich ausgestaltet wird: Miranda wurde von Prospero zwar zu einer emotional und intellektuell reifen Persönlichkeit erzogen, dennoch übt er gleichzeitig Macht über sie aus. Zu Beginn der Szene ist Miranda voller Mitgefühl für das Schicksal der Schiffbrüchigen und bittet ihren Vater, ihnen zu helfen, obwohl sie weiß, dass gerade er es gewesen sein könnte, der den Sturm ausgelöst hat: "If by your Art, my dearest father, you have/Put the wild waters in this roar, allay them." (I. Akt, 2. Szene, Verse 1-2). Sie beklagt den Tag "O, woe the day!" (Vers 15). Dieser markante Ausruf wird zusammen mit der Geste der Bitte zu den Leitgedanken der Szene bei Oakes: Die Worte "Father" und „Woe the day“ sowie die Frage "Ist dies Dein Werk?" strukturieren den Anfangsmonolog der Miranda. Prosperos Antwort, sie möge sich beruhigen, wird gefolgt von der Erzählung der Vorgeschichte: Wie Prosperos Thron usurpiert und er mit Miranda in einem Boot ausgesetzt wurde, eine Aufklärung, die lange aufgeschoben wurde und für die der Moment nun gekommen ist ("The hour’s now come", Vers 36). Im Libretto von Meredith Oakes wird die Sprache in kurzen Versen und mit Reimen und Anaphern und Epiphern vereinfacht: "I was Milan!/I was duke!/I loved seclusion/And my books/Meanwhile my brother who agreed to represent me/Plotted in his greed to overthrow me/…/He branded me incapable!/He thought me replaceable!/He went to the King of Naples!/…/Milan the fair/Milan the artful/Milan the rare/Milan the skillful/Milan my library/Milan my liberty/To Naples gross and bold/Milan was sold".19

Auffallend in der musikalischen Interpretation von Adès ist vor allem die Partie des Ariel. Er hat sie der Sopranistin Cynthia Sieden20 auf den Leib geschrieben, und es ist fraglich, wer außer ihr in der Lage sein wird, die fast vokalakrobatische, meistens jenseits des hohen C liegende Koloraturpartie zu singen. Die Vokalisen mit Assoziationen an Vogelstimmen evozieren das "Außerweltliche" der Figur und des gesamten Kontextes der magischen Insel; damit ersetzen sie gewissermaßen die in das Stück von Shakespeare eingefügten Lieder, mit denen Ariel musikalisch die Magie in Gang setzt.

Prospero freilich wird von Adès ähnlich ambivalent begriffen wie es die Shakespeare‘sche Vorlage nahelegt. Er ist "ein Zauberer, der alles beherrscht…doch er ist auch ein Vater, der seinen Kräften entsagt, wo die höheren Mächte, Liebe und Versöhnung es fordern"21. Am Ende des Stücks schwört Shakespeares Prospero der Zauberei ab: „But this rough magic/I here abjure“ (V. Akt, 1. Szene, Verse 50-51) und kündigt an, seinen Zauberstab zu zerbrechen: "I‘ll break my staff,/Bury it certain fadoms in the earth", und sein Zauberbuch zu versenken: "And deeper than did ever plummet sound/I’ll drown my book". (Verse 53 ff.) In der vorangehenden Rede gibt er sich als ein Magier zu erkennen, der auch die schwarze Magie kennt und anwendet. Die politischen Implikationen des Herrschers Prospero sind oben in Bezug auf den Machiavellismus bereits zur Sprache gekommen. Das Libretto für Adès‘ Vertonung reduziert hier abermals den Text auf die reine Handlung: "Pride, pride/All will die/I’ll drown my book/I’ll break my stave/I’ll rule in Milan/Beside my grave".22

 

Luciano Berio/Italo Calvino und Thomas Adès/Meredith Oakes haben sich auf ganz unterschiedliche Weise dem Stoff genähert: Auf der einen Seite eine "Azione musicale" mit  opernhaften Anleihen in den Kleinformen, aber einer grundsätzlich fragmentarischen Struktur und einer Textform, die aus verschiedenen Quellen (die mit dem Sturm zusammenhängen) schöpft; auf der anderen Seite eine Oper in klassischer dreiaktiger Form, die ein Libretto zugrundelegt, das auf der Basis des Shakespeare‘schen Textes arbeitet. Musikalisch hat man es bei Berio mit einem zwar im Vokalen Wurzelnden zu tun, aber Konzessionen an den Belcanto werden hier nicht gemacht. Im Gegenteil ist die Musiksprache in Un re in ascolto eher schroff, zum Teil mit parlando-Elementen, und nicht immer leicht zugänglich. Anders Thomas Adès: Sein zuweilen eklektischer Stil schmiegt sich an das Ohr des Hörers, brüskiert nicht, überrascht höchstens (etwa in der Partie des Ariel) mit extremen Entscheidungen. Dennoch bleiben Übereinstimmungen und Parallelen festzuhalten: Das Stück inspiriert in beiden Fällen zu einem Nachdenken über Autorität und Milde, das bei Berio in der Figur des Prospero auch metatheatralisch aufgeladen wird mit einer Reflexion über das Theater. Beide Werke sind Beispiele für die Möglichkeit, in Formen für das Musiktheater alte Stoffe in neuen Gewändern zu präsentieren. Die Starrheit eines älteren Textes wird – bei Berio durch textliche Assoziationen noch verstärkt – in der Oper durchbrochen und wird offen für die Aktualisierung. Szene, Kostüme, Performance kommen als Wahrnehmungsparameter hinzu. Als Möglichkeit, Weltzugänge in einem unmittelbaren Präsenz darzubieten,23 ist Oper deshalb das zeitgenössische Genre schlechthin.

 

 

 



  1. Winton Dean hat 1965 eine Übersicht erstellt, die für „The Tempest“ 31 Positionen enthält. An zweiter Stelle steht „Romeo and Juliet“ mit 24 und an dritter „A Midsummer Night’s Dream“ mit 15 Positionen. Winton Dean verzeichnet in seiner Liste (erfasste Werke bis 1965) 31 Positionen. An zweiter Stelle steht „Romeo and Juliet“ mit 24 und an dritter „A Midsummer Night’s Dream“ mit 15 Positionen. Der Reigen beginnt bei Dean mit Purcell und endet, bei Dean, vorläufig, mit Frank Martin (1956). Vgl. Winton Dean, „Shakespeare in the Opera House“, in: Shakespeare Survey 18/1965, S. 75-93. Dort sind nicht nur komplette Opern erfasst, auch einzelne Akte und Bühnenmusiken. Michael Tippetts Oper „The Knot Garden“ von 1970 nimmt Motive aus „The Tempest“ auf. Eine Übersicht „Shakespeare Inspired Operas“ gibt es auf http://www.nosweatshakespeare.com/resources/shakespeare-inspired-operas/, die einige neuere von Shakespeare inspirierte Werke nennt, für „The Tempest“ das erwähnte Werk von Tippett und ein weiteres von John C. Eaton aus dem Jahre 1985; Konsultation 03.10.2014.
  2. Platz vier der Liste „Top Ten Shakespeare Operas“ der Online-Zeitschrift San Francisco Classical Voice (Ausgewählt von Michael Zwiebach), https://www.sfcv.org/article/top-ten-shakespeare-operas; Konsultation 03.10.2014.
  3. In: Klaus Reichert, Der fremde Shakespeare, München, Hanser, 1998, S. 119-133. (Erstveröffentlichung 1989)
  4. Übersetzung Klaus Reichert, S. 132, Anm. 1. Der Name Prospero ist in diesem Zusammenhang auch sprechend (günstig, erfolgreich).
  5. Vgl. dazu die „Songs for Ariel“ (1962) von Michael Tippett, neu eingespielt auf der CD Views on/of Shakespeare. Shakespeare-Vertonungen des 20. Jahrhunderts, Carola Schlüter (Sopran)/Andreas Sorg (Klavier)/Reinhard Weihmann (Sprecher), Cadenza 800869. Zu den musikalischen Elementen in Shakespeares „The Tempest“ gehören auch die „Masque-Elemente“, mit dem Auftritt der Göttinnen Iris, Ceres und Juno in der Hochzeitszeremonie für Miranda und Ferdinand im 4. Akt.
  6. Vgl. Harold Bloom, Shakespeare, The Invention of the Human, London, Fourth Estate, 1998, S. 666, der das Stück als “virtually plotless” (praktisch ohne Handlung) bezeichnet.
  7. Harold Bloom nennt “The enchanted Isle” von William Davenant und John Dryden (für Purcells Oper), die Caliban als singenden Trunkenbold darstellt, für Generationen eine Paraderolle für „singing comedians“. Bloom, S. 663.
  8. UA in London, Royal Opera House.
  9. UA bei den Salzburger Festspielen, 1984.
  10. Zum Libretto von Luciano Berios „Un re in ascolto“ vgl. das entsprechende Kapitel in: Caroline Lüderssen, Der wiedergewonnene Text. Ästhetische Konzepte des Librettos im italienischen Musiktheater nach 1960, Tübingen, Narr, 2012, S. 127-166.
  11. Vgl. die Dokumente zu dieser Zusammenarbeit in: Italo Calvino, Romanzi e Racconti III, Mailand, Mondadori, 1994, S. 730 ff. sowie in: Ute Brüdermann, Das Musiktheater Luciano Berios, Frankfurt am Main, Lang, 2007, S. 147-149.
  12. Luciano Berio, Un re in ascolto. Azione musicale in due parti. Parole di Italo Calvino. Ein König horcht. Musikalische Handlung in zwei Teilen. Texte von Italo Calvino. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, Libretto/Textbuch, Mailand, Ricordi, 1983.
  13. Friedrich Wilhelm Gotter, “Die Geisterinsel. Ein Singspiel in drei Akten“. Die Horen, dritter Jahrgang, Tübingen 1797, Achtes Stück (1. Akt), Neuntes Stück (2. und 3. Akt). / W.H. Auden, The Sea and the Mirror. A Commentary on Shakespeare’s The Tempest, in: W.H. Auden, For the Time Being, London, 1953, S. 7-60. Erstmals erschien der Kommentar 1944 im Druck.
  14. Vgl. David Izzo Garrett, W.H. Auden Encyclopedia, Jefferson, NC/London, 2004, S. 236.
  15. Calvino arbeitete zu der Zeit der Entstehung von „Un re in ascolto“ an Erzählungen zu den fünf Sinnen, darunter „Un re in ascolto“. Erschienen sind diese postum unter dem Titel „Sotto il solo giaguaro“ („Unter der Jaguarsonne“), Turin, Einaudi, 1995.
  16. Vgl. die Monologe zum Thema eines „anderen Theaters“.
  17. In der Tat fragten sich Kritiker nach der Premiere vielfach, um was es in der Oper eigentlich geht. Vgl. die Darstellung der Rezeption der Uraufführung in: Lüderssen, S. 155 ff.
  18. Vgl. zu einem Überblick auf sein Schaffen für das Musiktheater Brüdermann (Anm. 13).
  19. Zitiert nach dem CD-Booklet, EMI Classics, S. 24.
  20. Sie gab die Partie auch in der Inszenierung von Keith Warner an der Oper Frankfurt (Premiere als Deutsche Erstaufführung am 10. Januar 2010).
  21. Tom Service im Booklet zur Aufnahme, EMI Classics, S. 13, Übersetzung Eckhardt van den Hoogen.
  22. Zitiert nach dem CD-Booklet, EMI Classics, S. 52.
  23. Vgl. dazu Martin Seel, Die Macht des Erscheinens, Texte zur Ästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, v.a. das Kapitel 5: „Inszenieren als Erscheinenlassen.“ (S. 67 ff.)