Vermittlung Magazin

Tonale Inseln in einem atonalen Jahrhundert

STATEMENT
Dieter Kaufmann

Einer der Pioniere elektroakustischer Musik in Österreich. Studierte Komposition bei Karl Schiske und Gottfried von Einem. 1991-2006 Professur für Komposition in Wien und Leiter des Instituts für Elektroakustik und Experimentelle Musik. 2001-2004 Präsident des ÖKB.

So klar ist es wieder auch nicht, was zu welchen Zeiten unter Tonalität verstanden wurde. Vor einigen Jahren habe ich mich zum Beispiel intensiv mit der Frage beschäftigt, warum es zwar das Phänomen der "Gegenständlichen Malerei" als Gegenpol zur "Abstrakten Malerei" gibt, in der Musik jedoch zwar von "konkret" gesprochen wird, als dessen Gegenpol aber sehr verschiedene Begriffe bemüht werden (z.B. synthetisch, elektronisch...), nicht aber abstrakt genannt wird, was wiederum daher rührt, dass Musik gerne als an sich abstrakt, sozusagen als klingende Mathematik apostrophiert wird.

 

Ich beginne also mit einer gewagten These, wenn ich sage:

ALLE MUSIK, DIE ERKLINGT, IST – AKUSTISCH GESEHEN – TONAL.

Warum? – Weil wir in einer tonalen Umwelt leben.

Schließen wir diese tonale Umwelt beim Hören von Musik aus (zum Beispiel durch Verwendung von Kopfhörern), dann machen wir es unmöglich, das Gehörte durch die Räume der Wiedergabe zu "tonalisieren", also ihm die Obertonspektren hinzuzufügen, die alle Wiedergaberäume welcher Musik auch immer auszeichnen (was man gemein als gute oder schlechte Akustik eines Raums bezeichnet) und sie somit in das Spektrum unserer lebenslangen Hörerfahrung zu integrieren.

 

Natürlich gibt es atonal komponierte Musik, wobei mein Lehrer Karl Schiske für diese den Begriff "atonikal" bevorzugte, also Musik, die in keiner Tonart konzipiert ist, sondern anderen Gesetzen gehorcht: Also zum Beispiel die modale Musik des Mittelalters, oder die Musik der "Freien Atonalität", oder sogenannte "Zwölftonmusik", serielle, polytonale Musik...

Kaum ein Komponist heute sagt so deutlich in welchem System er komponiert. Ausnahme mag Rainer Bischof sein, der sich gerne freiwillig als "der letzte Zwölftonkomponist" bezeichnet.

 

Nun gibt es aber auch "das Tonale" oder "tonale Elemente" in nicht-tonaler Musik. Bestes Beispiel: Alban Bergs Violinkonzert, in dem sowohl ein Volkslied als auch ein Choral im Schlusssatz aufleuchten, kunstvoll in die zwölftönige Struktur der Komposition hineinverwoben – und zwar nicht nur als Melodie, sondern samt der originalen tonalen Harmonisierung. Man kann dieses Moment der Musikgeschichte in Alban Bergs Seelenverwandtschaft zu Gustav Mahler sehen, den ich als einen "Objektkünstler" im Zitieren von tonaler Originalität bis Banalität im Rahmen extrem gespannter Chromatik bezeichnen würde: Losgelöst von ihrer sozialen und kulturellen Funktion, tauchen da Bruchstücke einer anderen gesellschaftlichen Realität auf und irritieren den Hörer in seiner selbstzufriedenen Haltung beim Ritual der Teilnahme an der profanen Sonntagsmesse im Musikverein.

 

Eine besonders raffinierte Art tonaler Anleihen stelle ich bei meinem Lehrer Olivier Messiaen fest, die vielleicht von der Mixtur-Registrierung der Orgel herkommt: An sich nicht tonale Akkorde nähern sich durch "Instrumentierung", von weiten Intervallen in den tieferen Bereichen zu engeren Intervallen in den höheren Bereichen, den Klangspektren tonaler Akkorde an. Konsequenter Weise kritisiert Messiaen an Brahms dessen enge Intervalle in der Tiefe.

 

Dann gibt es natürlich noch die exzessive Ausnützung der Tonalität, quasi als Objekt einer phänomenologischen Klangausstellung. Hier haben die sogenannten Minimal-Komponisten Exemplarisches geleistet, z.B. Steve Reich mit Violin Phase oder Terry Riley mit In C, im weiteren Sinne

aber auch John Adams in Nixon in China.

 

Nicht unerwähnt sollte man aber auch ein Phänomen lassen, das ich "traumatische Rückfälle in musikgeschichtliche Nostalgie" nennen würde, wie es etwa in Krzysztof Pendereckis Polnischem Requiem oder in Kompositionen von Ladislav Kupkovic zum Ausdruck kommt, die durchgehend von Dvorak komponiert sein könnten. Beide Komponisten waren ja zunächst avantgardistisch unterwegs und haben zur Entwicklung der neuen Musik beigetragen: Penderecki etwa mit seiner Lukaspassion, Kupkovic mit der Idee des Wandelkonzerts.

Aber auch dieser "Virus" ist nicht neu, man denke an Richard Strauss‘ Wende zu Alpensymphonie oder zu Rosenkavalier, Werke, die überraschend wieder tonal komponiert sind, wenige Jahre nach Salome und Elektra. Und selbst Österreichs Avantgardist Nr. 1, Friedrich Cerha hat nach seinem atonalen Monumentalwerk Spiegel manch Spätromantisches in seine Musk einfließen lassen.

 

In allen Ländern gibt es aber auch Komponisten, die – mehr oder weniger unberührt von den Errungenschaften der Avantgardisten des 20. Jahrhunderts – an die organische Weiterentwicklung tonaler Musik glauben und dies auch mit ihren Kompositionen auf höchstem Niveau demonstrieren; in Österreich etwa Iván Eröd, Kurt Schwertsik, Nali Gruber, oder – auf wesentlich profanere Art – Ulf Diether Soyka oder die Komponisten des Vereins "Schöne Neue Musik".

 

Musikhistorisch betrachtet ist wie immer alles möglich, wenngleich sich die einzelnen Schulen oder Traditionen oft feindlich gegenüber stehen.

Manche, wie die "Spektralisten" unter dem Schutz exzellenter Ensembles und Veranstalter, andere im alternativen Untergrund.

 

Bleibt mir – um nicht noch weiter zu verwirren – nur die Möglichkeit, meine persönliche Haltung zu skizzieren:

 

In einer globalisierten Welt ist die Existenz kultureller Vielfalt ein zu verteidigendes Gut (Siehe Unesco-Deklaration). Ebenso wie Käsesorten, haben auch divergierende Produkte der Komposition ein Recht, ja die Pflicht, erhalten zu werden. Tonalität ist sicher ein unvergängliches Gut und wert, geschützt und weiterentwickelt zu werden. Gleichzeitig geht es aber auch darum, neue gesellschaftliche Erscheinungen durch neue musikalische Konstellationen zu reflektieren, zu kommentieren oder zu konterkarieren. Wir können als KomponistInnen unmöglich die Probleme unserer Zeit durch Sonatenform oder durch Kontrapunktregeln aus der Renaissance auch nur einigermaßen darstellen. Das würde Komposition zu einer ausschließlich selbstreferenziellen Insel einiger Weiser oder verirrter Geister machen. Andererseits ist die Illusion, jede Generation würde die Welt neu erfinden, in der Pubertät vielleicht an- und aufregend, aber als Lebenskonzept nicht ausreichend.

Ich selbst bin immer wieder von Tonalität fasziniert, nehme sie oft als Ausgangsmaterial, das dann durch Überlagerungen, "Übermalungen" neutralisiert wird, ohne dass der Charme des Harmonischen ganz verloren geht. So geschehen mit Bach in Es ist genug, mit C. und R. Schumann im Klavierkonzert Für Clara, mit Paganini in Paganihilismo, mit Kärntnerliedern in Tag-Nacht-Morgen.

Etwa so wie György Ligeti, fasziniert von rhythmischen Formeln, in seinen Athmosphères durch kontrapunktische Überlagerungen eine scheinbar ruhige Fläche (innerlich voller Bewegung!) erzeugt, mache ich es mit der Harmonie. Die gestische Spannung zwischen den Intervallen lässt sich durch Oktavierungen vergrößern (ein guter Rat meines Lehrers Gottfried von Einem) und gleichzeitig ihren traditionellen Code verleugnen... So lässt sich aus dem tonalen Fundus der Musikgeschichte eine neue zeitgemäßere Ästhetik der bewegten Töne weiterentwickeln, ohne beliebig im Heute anzusetzen. Vieles davon habe ich in den Studios der elektroakustischen Musik gelernt und ausprobieren können, bevor es auch Eingang in meine Partituren gefunden hat. Ich halte das aber nicht für ein Rezept. Jeder muss seine Haltung zur Tonalität und überhaupt zur Tradition tonaler Musik selbst zu definieren lernen. So hat Olivier Messiaen die 12-Tontechnik geholfen, seine postromantische Phase zu überwinden, obwohl er zu Schönberg eher reserviert Stellung nahm und erst 1949 in Darmstadt in Überwindung von dessen Lehre, die "Serielle Musik" einläutete.

 

In einer erschreckenden Rezession der Marktanteile sogenannter "Ernster Musik", wo heute unter dem Begriff "Klassik" alles Anspruchsvollere vereinnahmt wird, ist es ein Kampf im elfenbeinernen Turm einer Gesellschaft, die Kunst weitgehend als Unterhaltung funktionalisiert hat.

In allen Künsten scheint die Gesellschaft, in der wir leben, solche Gedanken besser zu verstehen, als in der Musik. Wohl auch deshalb, weil man diese Kunstprodukte besser auf den Markt bringen kann, als die ephemeren Botschaften der Musik.