Vermittlung Magazin

Integration harmonischer Spielräume

Gedanken zu den Momenten von Tonalität im Komponieren Olga Neuwirths

ESSAY
Stefan Drees

Lehrbeauftragter für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität Essen, Privatdozent an der Hochschule für Musik und Theater Rostock sowie redaktioneller Mitarbeiter der Neuen Zeitschrift für Musik und der Zeitschrift Die Tonkunst, Herausgeber der Zeitschrift Seiltanz. Seine Publikationen widmen sich mehrheitlich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

www.stefandrees.de

"Fünfsätzig puzzelt sich Olga Neuwirth bei ihrer Auftragskomposition Remnants of Songs … an Amphigory […] durch die Romantik. Nicht nur Franz Schubert und Wiener Walzer, sondern von Bach bis Pop wird hier alles Mögliche zu einem großen, farbschauerig schönen Spektakel verhackstückt. Ein fünfsätziges Patchwork voll hypervirtuosem Flageolett-Gefiepe und Glissando-Flimmern […]."1 An undifferenzierten Urteilen wie jenem von Karl Lührs-Kaiser hat es bei den Versuchen, Olga Neuwirths Komposition Remnants of Songs … an Amphigory für Viola und Orchester (2009) zu beschreiben, nicht gefehlt. Reinhard Kriechbaums Frage etwa, ob das Stück, das "schonungslos historisches Material verschneidet", denn überhaupt "noch irgendwas mit Neuer Musik zu tun hat",2 trifft in ihrer Oberflächlichkeit ebenso wenig den Kern der Sache wie die überhebliche, in musikjournalistischer Verbeugung vorm großen Adorno-Denkmal verharrende Meinung von Matthias Entreß, die in Stücken wie Neuwirths Bratschenkonzert fassbare "spätromantisch/neoklassizistische Schreibweise" deute einen "Paradigmenwechsel hin zu einer Weiterführung vormoderner Traditionen und die drohende Abkehr von den hohen moralisch-ästhetisch-philosophischen Maßstäben einer sich immer neu und kritisch positionierenden Kunstmusik" an.3 Vokabeln wie "spätromantisch", "verhackstücken" oder "verschneiden" werden hier zwar eingesetzt, um das Komponierte fein säuberlich in Schubladen einzuordnen und eine ästhetische Ablehnung ihm gegenüber zu rechtfertigen; auf die kritisierte Komposition bezogen, geben die plakativen Worthülsen freilich eher über die Ratlosigkeit der Rezensenten angesichts einer als Zitatverfahren wahrgenommenen Verwendung melodischer und harmonischer Strukturen Aufschluss, als dass sie einen Beitrag zum Verständnis der damit verknüpften ästhetischen Rahmenbedingungen leisteten.

 

Erweiterung der Perspektive

Das Wesen von Neuwirths Vorgehensweise erschließt sich leichter, wenn man hierfür den Begriff "Tonalität" bemüht, ihn aber zugleich in Abgrenzung zu früheren Verwendungen einer der aktuellen historischen Situation geschuldeten Neubestimmung unterzieht. Dass Tonalität heute wieder zu einem salonfähigen musikalischen Gestaltungsmittel geworden ist, mag man manchen Komponisten als Bequemlichkeit anlasten; doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Gebrauch in vielen Fällen einen kritischen künstlerischen Einwand gegen den Absolutheitsanspruch einer mittlerweile ideologisierten und weitgehend kunsthandwerklich gehandhabten Moderne artikuliert. Aus dieser Perspektive wäre die Hinwendung zur Tonalität daher mitnichten als künstlerische Regression, sondern im Gegenteil als selbstbewusste und in hohen Maße reflektierte Suche nach geeigneten Gestaltungsmöglichkeiten zu begreifen, die im Angesicht aktueller gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen dazu beitragen kann, sich als kritisches Subjekt inmitten einer reichen Historie zu positionieren und im Sinne von "Tradition" – und damit im Rekurs auf die Herkunft des Wortes vom Lateinischen "tradere" (in der Bedeutung von "trans dare" = hindurchreichen) – die eigene Arbeit zu bereichern. Dahinter steht ein Verständnis des Komponierens, bei dem es darum geht, sich nicht durch Ablehnung des Anderen zu profilieren, sondern dieses sinnvoll in das Eigene zu integrieren, um dadurch aktualisierten Zugriff auf seine Gestaltungs- und Ausdrucksspielräume zu erlangen.

Ein fruchtbares Denkmodell zur Erfassung des Gebrauchs unterschiedlicher Arten von harmonischen Wertigkeiten hat Wolfgang Andreas Schultz vorgeschlagen, indem er die Harmonik in Kompositionen von Krzysztof Penderecki und Lera Auerbach miteinander verglichen und deren jeweilige strukturelle Grundlagen in Zusammenhang mit den daraus resultierenden Merkmalen von Tonalität isoliert hat. Da Tonalität keine fixe Größe ist, sondern als Bündel aufeinander bezogener Regeln verstanden werden muss, die in der Vergangenheit ständigen historischen Wandlungen unterworfen waren und sich auch parallel zur Atonalität weiter verändert haben, schlägt Schultze ein Schema vor, in dem das, was heute undifferenziert als "Atonalität" bezeichnet wird, den Teilbereich eines als Kontinuum aufgefassten Zusammenhangs bildet. Dieses Kontinuum enthalte außerdem die "Bindung an ein tonales Zentrum" sowie diverse "Stadien der Lösung von ihm bis zu dessen zeitweiliger Aufgabe", reicht also letzten Endes "von der Konsonanz über verschiedene Stadien der Dissonanzauflösung bis zu unaufgelösten Dissonanzen" und umfasst dementsprechend als Basis "verschiedene Arten von melodischem Material […] von Pentatonik über modale und nichtmodale Diatonik bis zum chromatischen Material und eventuell bis zur Einbeziehung von Vierteltönen".4 Folglich lassen sich funktionsharmonische Verbindungen ebenso als Spezialfälle begreifen wie – diesen entgegengesetzt – komplexe, nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten geformte mikrointervallische und spektrale, gegebenenfalls mit Geräuschklängen angereicherte harmonische Prägungen.

Die gedankliche Basis von Olga Neuwirths kompositorischem Handwerk soll im Folgenden als ein solches Kontinuum harmonischer Wertigkeiten begriffen werden. Es bietet der Komponistin in Abhängigkeit von der Logik ihrer jeweiligen Konzeption die Voraussetzungen, einen von Werk zu Werk veränderbaren oder sogar innerhalb einer Komposition variablen Zugriff auf die damit verknüpften Materialgegebenheiten und Techniken zu wählen. Allerdings zeigt das Beispiel Neuwirth auch, dass ein Schema wie dasjenige von Schultz – so hilfreich es auch sein mag, wenn es darum geht, die strukturelle Differenz zwischen verschiedenen harmonischen Bezugsmodellen herauszuarbeiten – an seine Grenzen stößt, wenn es darum geht, über den Modus der jeweiligen kompositorischen Bezugnahme Aufschluss zu erlangen oder gar deren Zusammenhänge mit bestimmten kulturgeschichtlichen Phänomenen zu erfassen. Dies ist allerdings notwendig, um der Intentionalität auf die Spur zu kommen, die hinter Neuwirths Griff zu bestimmten stilistischen und damit auch musiksprachlichen Erwägungen stehen, denen voneinander abweichende harmonische Spielräume zugrundeliegen.

 

Strategien des Verweisens

Die in den Kritiken zu Remnants of Songs … an Amphigory anklingende kreative Aneignung von Tonalität durch Einbindung von Zitaten oder zitatähnlichen Passagen ist in Neuwirths Musik kein Einzelfall; sie erweist sich vielmehr als Element, das bereits in den frühesten Werken der Komponistin nachgewiesen werden kann und sich als – freilich unterschiedlich gewichtete – Konstante bis in ihre jüngsten Arbeiten verfolgen lässt. Diesbezüglich hat etwa Karin Hochradl in ihrer Untersuchung zum gemeinsamen Musiktheaterschaffen Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks dargelegt, inwiefern die Komponistin mit entsprechenden Verfahren auf jene Stilmittel reagiert, die ihrerseits von der Schriftstellerin im Umgang mit Sprache und Sprachstilen herausgebildet werden.5 Dass Neuwirth für die Transformation der Jelinek'schen Libretti in musiktheatralische Ausdrucksformen ihrerseits auf eine breite Auswahl divergierender Stilistiken zurückgreift, führt dazu, dass immer wieder tonale Strukturen – oft in parodistischer Absicht – die musikalische Faktur bestimmen und als Momente der Brechung für die musikalisch-szenische Gesamtgestalt bedeutsam werden. Hierbei setzt die Komponistin unterschiedliche harmonische Wertigkeiten ein, die sich entscheidend auf die dramaturgische Disposition des Komponierten auswirken.

Wenn beispielsweise im achten Bild des Musiktheaters Bählamms Fest (1997–99)6 die Schriftstellerin mit den Worten des "fetten Schafbocks" – "Seid ihr alle da?" (T. 651) – das Genre des Kasperletheaters aufgreift, reagiert Neuwirth auf diese Stileigentümlichkeit, indem sie die "feschen Schaftänzerinnen" zu einer steirischen Volkweise tanzen lässt, deren metrische und harmonische Faktur vorübergehend – allerdings durch Glissandi und Mikrointervalle der E-Gitarre eingetrübt – den Tonsatz dominiert (T. 657–674). Dass Jelinek anschließend mit dem dreimaligen, rhythmisch skandierten Ruf "Wir wollen Märy!" die Atmosphäre eines Popkonzerts persifliert (T. 675–677), beantwortet Neuwirth mit einen lasziven Tanz des schwarzen Schafes (T. 687–717), dessen Walzeranklänge den Satz zwar metrisch bestimmen, die Tonalität aber durch den Einsatz melodischer Linien auf der Basis unterschiedlicher harmonischer Bezugssysteme destabilisieren. Ein weiterer Schritt der Distanzierung von der eingangs etablierten tonalen Basis erfolgt dort, wo die Volksweise nur noch in Gestalt einer "Luftpolka" erklingt (T. 732–763): Die reguläre metrische Struktur des Ensemblesatzes basiert zwar weitgehend auf den rhythmischen Verläufen der Polka, die mittels Atem- und Klappengeräuschen artikuliert werden, doch führt zugleich die fehlende Lokalisierung in tonaler Harmonik dazu, dass sich die Aufmerksamkeit nun auf eine zweite Ebene des Tonsatzes, nämlich die Liebesszene zwischen Jeremy und Theodora (ab T. 725), verlagern kann. Da Jeremy im Verlauf dieses Bildes nach Jelineks Vorstellung "wie ein finsterer Stummfilmschurke" agieren und dabei auf ein entsprechendes Repertoire mimischer Ausdrucksformen mit dem ganzen Arsenal an übertriebenen Gebärden zurückgreifen soll, wird die scheinbar intime Situation bereits durch Einsatz der Körpersprache unterwandert. Analog zu Jelineks Verfahren, den übertrieben affektierten Gestus im Libretto durch Anweisungen wie "kitschig, künstlich" oder "übertrieben kitschig, wie in einem Stummfilm" hervorzuheben, verarbeitet Neuwirth formelhafte Wendungen bestimmter Singweisen, um damit die überspannten Liebesschwüre als Floskeln zu demaskieren. Zwar verzichtet sie hierbei auf eine tonale Fundierung, doch lässt sich etwa der Einsatz von Koloraturen unschwer als ironischer Verweis auf die Belcantotradition mitsamt ihrer auf wenige emotionale Situationen eingeschränkten Ausdrucksmittel verstehen. Ausgehend vom sorgsam abgestuften Zugriff auf Elemente tonaler Stilistk prallen hier letzten Endes unterschiedliche Erfahrungsräume aufeinander, die sich in der rhythmischen Artikulation des Festes einerseits und dem opernhafte Ausdrucksformen zitierenden Dialog der Protagonisten andererseits durchdringen, bis sie dann im Höhepunkt des Schafmordes gleichsam neutralisiert werden.

Während in dieser Passage der parodistische Gebrauch diverser tonal aufgefasster Kontexte im Mittelpunkt steht, lässt die Einbindung von Zitaten an anderen Stellen Klangsignaturen mit Verweischarakter entstehen, die das szenische Geschehen um hörend erschließbare Perspektiven erweitern und damit entscheidend zur Sinngebung jenseits des Librettotextes beitragen. So zieht sich im zehnten Bild von Bählamms Fest ein sentimental anmutendes Zitat aus dem zweiten Violinkonzert von Henryk Wieniawski in unterschiedlichen Graden von Deutlichkeit durch das Ensemble (ab T. 889), das durch Zuweisung der Melodie an den "nostalgischen" Klang eines Theremins der via Filmeinspielung eingeblendeten Erinnerungssequenz ihr klangliches Profil verleiht, jedoch durch seine wechselnde Präsenz innerhalb des Tonsatzes zugleich auch auf den trügerischen Charakter des Erinnerns anspielt.7 Im fünften Bild schießlich, das die erste Begegnung zwischen Theodora und Jeremy in ein Kinderzimmer-Szenario einbettet, sind die fragmentierten, aufgrund ihrer tonalen Struktur aus dem Satzgerüst heraustretenden Melodiezitate aus Kinderliedern des 1942 im Krakauer Ghetto ermordeten jüdischen Volkssängers und Arbeiterdichters Mordechaj Gebirtig mehrdeutig konnotiert (vgl. ab T. 444 und besonders T. 455–459):8 Sie stehen einerseits, dem charakteristischen Klang eines Kindersaxophons anvertraut, für die zurückliegende Kindheit, die sich eben nicht nur als idealisierte Zeit der Unschuld, sondern auch als Phase kindlicher Grausamkeit entpuppt; von hier aus verweisen sie andererseits auf das historische Szenario vom Untergang der jüdischen Kultur Osteuropas während des Zweiten Weltkrieges und konstituieren darüber hinaus als Metaebene einen Bezug zum Entstehungskontext von Leonara Carringtons Theaterstück, auf dessen deutscher Übertragung Jelineks Libretto basiert.9

 

Die Konzertform als Ort historischer Reminiszenzen

Dass hier und an anderen Stellen von Neuwirths Schaffen die Integration von Prätexten als Musik- oder Stilzitate mit einem Rekurs auf Tonalität verbunden ist, bleibt nicht ohne Wirkung auf die jeweiligen Kontexte und affiziert diese – je nach Funktion des Zitats – in unterschiedlichen Graden von Deutlichkeit.10 Entsprechende Elemente werden allerdings niemals ungefiltert ins Werkganze übernommen, da ihre Klanggestalt immer bereits durch kompositorische Maßnahmen – etwa mittels präzise vorgeschriebener Präparationen oder bestimmter Klangerzeugungsarten – manipuliert ist, so dass ihr Erscheinen zugleich den Akt ästhetischer Distanzierung einbegreift. Dass die Komponistin hierbei mit Topoi und Zitaten unter Einbeziehung von deren Geschichtlichkeit arbeitet, unterstreicht den integrativen Charakter dieses Verfahrens.11 Er ist die Voraussetzung dafür, dass Neuwirths "gewagte[r] und dennoch respektvoll innovative[r] Umgang mit traditionellen Diskursen"12 letzten Endes der Etablierung kommunikativer Strukturen dienen kann. Die prinzipielle Mehrdeutigkeit dieses Vorgehens ist fest in der Variabilität der benutzten Materialien verankert: Hier herrscht ein gleichwertiges Nebeneinander unterschiedlicher harmonisch-klanglicher Räume, ein "Netzwerk von Relationen",13 das zugleich unterschiedliche historische Räume einbegreift und einen reflektierten Umgang mit den darin verankerten Subtexten impliziert. Ob Neuwirth die unterschiedlichen Bereiche bruchlos zusammenfügt, ist dabei weniger eine Frage des Könnens als ein Aspekt der Triftigkeit, inwiefern dadurch ironische Brechungen erfahrbar und als komponierter Kommentar kenntlich gemacht werden sollen, oder inwiefern die Zusammenhänge lediglich als Anspielung in die Partitur eingeschrieben werden und so als Impulsgeber für unterschiedliche Deutungs- und Sinngebungsprozesse dienen können.

Diese Handhabung von Tonalität gehört untrennbar zu Neuwirths Auseinandersetzung mit der Gattung des Konzerts,14 bei der es ganz konkret um die Überlieferung und Neubestimmung dessen geht, was im Zentrum der musikalischen Auseinandersetzung mit dem Aspekt des Konzertierens steht und, einer historischen Entwicklung angehörend, im Augenblick des künstlerischen Zugriffs fortgeschrieben wird; denn konzertantes Komponieren erscheint für die Komponistin überhaupt nur möglich, wenn zugleich die Bedingungen der gewählten Gattung als deren historische Verankerung durchleuchtet werden. Die spezifischen satztechnischen Dispositionen des Konzerts sind daher der Ort, an dem sie historische Reminiszenzen anlagert, die für ihr Aufgreifen der Gattungstradition bedeutsam sind. Auch hier bildet die Einbeziehung von Tonalität als harmonisches Bezugsmodell die Grundlage dafür, dass die jeweils eingebundenen Zitate und Anspielungen ihre kommunikative Wirkung im musikalischen Kontext entfalten können.

Der für alle fraglichen Werke charakteristische, nicht unwesentlich auch durch biografische Hintergründe motivierte Umgang mit "musikalischen Erinnerungsbruchstücken"15 – dies hat Gordon Kampe exemplarisch in einem Aufsatz zu … miramondo multiplo … für Trompete und Orchester (2006) herausgearbeitet – wird so stark an die harmonischen Strukturen des Satzes gebunden, dass er jegliche Äußerlichkeit verliert und als mehrdeutiges Vexierspiel erscheint, da er seinerseits die harmonische Disposition des Satzes beeinflusst und die Identität von Zitaten bis zur Unkenntlichkeit verschleiert: So zitiert Neuwirth zu Beginn des Kopfsatzes von … miramondo multiplo … (T. 11), durch Textunterlegung in der Partitur unterstrichen, den Themenkopf der Arie "Un pensiero nemico di pace" aus Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno HWV 71 und leitet dieses tonal geprägte Melodiezitat durch eine "repetitive, rhythmische Sechzehntelfigur in den Streichern" ein (T. 8–11), die "wiederum rhythmisch und gestisch der Händel'schen Begleitung entspricht".16 Die zunächst auf der kleinen Terz fas (T. 8–9) und dann auf der Quinte ae (T. 10) beruhende Begleitfigur prägt den harmonischen Eindruck dieser Passage, spart dabei aber gerade das bei Händel für konstitutive Intervall der Quarte aus. Dieses Phänomen wertet Kampe als Beispiel für Neuwirths doppelbödiges Spiel mit Bedeutungen, da die Terz wiederum für das Accompagnato-Rezitativ "And suddenly there was with the angel a mulititude of the heav'nly host" aus dem Messiah HWV 56 prägend ist und daher schon zu Beginn des Werkes Bezüge eingearbeitet scheinen, die Neuwirth erst im letzten Satz durch mehrfachen Rückgriff auf den Messiah transparent macht, so dass die Messiah-Zitate gar "als eine Art fomale Klammer" für die Komposition verstanden werden können.17

Solchem Umgang mit Zitaten entspricht, dass Neuwirth – und dies lässt sich als wichtiges Regularium des solchermaßen in Gang gebrachten "ästhetischen Spiels" festhalten – die wirkliche Identität bestimmter Phrasen gar nicht erst aufdeckt, so dass der Hörer im Unklaren bleibt, ob er tatsächlich ein Zitat wahrnimmt oder dieses nur imaginiert. Die Frage, wann und aufgrund welcher Details ein Element des Satzes als präexistentes Objekt erkannt und bewertet werden kann, hängt daher ganz wesentlich von unserer eigenen Assoziationsbereitschaft ab, ist aber auch davon bestimmt, auf welche Art und Weise und unter welchen harmonischen Voraussetzungen die Komponistin entsprechende Passagen in die musikalische Struktur einbettet. Der resultierende Kippeffekt liefert den Hörer ganz bewusst einer Situation aus, die sich der endgültigen Zuordnung entzieht. Zitate oder zitatähnliche Passagen und die mit ihnen verknüpften harmonisch-melodischen Strukturen dienen damit – und das Beispiel von Remnants of Songs … an Amphigory ist hierfür ebenfalls charakteristisch – in gleichem Maße als Folie für die Imagination wie als Impuls für die Suche nach musikalischem Gehalt.

 

Relektüre von Tonalität

Tonalität, so lässt sich auf Grundlage der bisherigen Ausführungen resümieren, hat bei Olga Neuwirth immer etwa mit Verweisen zu tun, dient als Chiffre für das historisch Andere, das zur Konstitution von Erinnerungs- oder Imaginationsräumen benutzt wird und dadurch eine intentional durchaus unterschiedlich deutbare kommunikative Funktion übernimmt, während die damit verschränkte harmonische Gewichtung entscheidend zur Dramaturgie szenischer oder formaler Verläufe beiträgt. Dies impliziert zwar seine Identifikation mit dem Zitat als einem Auftauchen des Fremden im Eigenen zum Zwecke der Stiftung intertextueller Bezüge, erschöpft aber noch nicht sämtliche Arten der Integration tonaler Sachverhalte in Neuwirths Musik. Denn neben solchen Zitatschichten arbeitet die Komponistin auch mit einer Relektüre tonaler Musik, d.h. mit einem Denken aus der Tonalität heraus, das sich jedoch zugleich der historischen Distanz zu den verwendeten Techniken bewusst ist. Dass Tonalität dabei selbst nie unbeschädigt erscheint, sondern immer bereits von Momenten affiziert ist, die dem strukturellen Denken und den klanglichen Vorstellungen der "Avantgarde" als mittlerweile gleichfalls historisch gewordener Denkrichtung entspringen, zeigt sich daher besonders deutlich dort, wo Neuwirth sich ausschließlich der Neugestaltung präexistenter tonaler Musik widmet.

Exemplarisch hierfür sind die Transkriptionen von Songs des Pop-Countertenors Klaus Nomi, die zunächst 1998 unter dem Titel Hommage à Klaus Nomi für Countertenor und kleines Ensemble als vierteilige Songreihe entstanden und 2007/08 um fünf weitere Songs zu einem "songplay in nine fits" erweitert wurden: Die Komponistin behält zwar in den einzelnen Stücken, bei denen es sich in den meisten Fällen bereits selbst um Coverversionen mehr oder minder bekannter Vorlagen nach Maßgabe popmusikalischer Verfahrensweisen handelt, die harmonische Originalgestalt bei und tastet auch die führende Countertenorstimme als Vehikel und hervorstechendes Merkmal von Nomis Stimmkunst nicht an; allerdings unterzieht sie das instrumentale Arrangement einer kompositorischen Relektüre und macht die von ihr instrumentierten Sätze durchlässig für Gestaltungsmittel, die sie aus bestimmten Momenten der Vorlagen ableitet, indem sie diese konsequent umdeutet und weiterführt, bis sie das System der Tonalität überschreiten. Indem Neuwirth etwa für die E-Gitarre eine Skordatur mit teils vierteltönig veränderter Saitenstimmung vorschreibt und in den übrigen Instrumenten Intervallabstände häufig durch Schritte im Vierteltonbereich auffüllt, verwischt sie die klaren melodischen Konturen und reichert die einfache Harmonik mit zahlreichen Zwischenstufen an. So unterstreicht sie in Remember18 durch Glissandi in der E-Gitarre und durch eine um Mikrointervalle erweiterte Chromatik in der Bassklarinette den Klageaffekt aus Henry Purcells Original, der in Nomis Coverversion aufgrund der ausschließlichen Verwendung einer einfachen akkordischen Synthesizerbegleitung bereits in die Ferne gerückt ist.

Auf ähnliche Wese verstärkt und überzeichnet Neuwirth in allen Songs scheinbar nebensächliche Details und arbeitet einzelne Motive heraus, die sich an der einen oder anderen Stelle gar zu melodischen Echos oder musikalischen Kommentaren zum Text auswachsen. Die Herkunft der Vorlagen aus dem Bereich der Popkultur bleibt zwar deutlich erkennbar, doch bekommen die einfachen Strukturen durch den Zugriff der Komponistin nun ihrerseits den Stempel einer ins Artifizielle gesteigerten Lesart aufgedrückt. Die Dur-Moll-Tonalität der Songs wird dadurch um Ausdrucksmittel bereichert, die ihr originär nicht angehören; sie wird zu einem mehrdimensional deutbaren harmonischen Raum, der die ursprünglichen harmonischen Kontexte noch bewahrt, sie aber mit einem neuen Klanggerüst überlagert und der Musik damit ein neues Erscheinungsbild verleiht. Basierend auf dem Wissen, dass die satztechnisch-harmonischen Elemente sich einerseits aus popmusikalischen Zusammenhängen speisen, andererseits aber auch dem kunstmusikalischen Diskurs angehören, vollzieht Neuwirth dadurch eine Grenzüberschreitung, die sich zugleich als Vermischung unterschiedlicher musikalischer Praktiken erweist. Im Gegensatz zu dem mit Brechungen verbundenen Aufscheinen von Tonalität innerhalb größerer Werke entsteht in den Nomi Songs jedoch ein einheitliches Gesamtbild, da die Komponistin durch konsequente Kombination zweier Verfahren beide aufeinander abbildet. Dies lässt sich wiederum als Reaktion auf die unmittelbare Auseinandersetzung mit bestimmten historischen Gestaltungsverfahren begreifen, nämlich in diesem Fall auf die Verbindung zweier unterschiedlicher Ansätze der Lied- bzw. Songtradition zu Gunsten einer mittlerweile sinnvoll gewordenen Synthese von begleitetem Liedgesang und Popsong.19

Hier wie in allen zuvor skizzierten Beispielen geht es letzten Endes – und dies bleibt als Wesenszug für Neuwirths Umgang mit Tonalität festzuhalten – um eine Etablierung kommunikativer Strukturen, hinter der sich durchaus auch ein narratives Moment verbergen kann: Die Grundlage dafür schafft die Komponistin jeweils, indem sie dem Zuhörer unterschiedliche Optionen anbietet und vagierende Deutungshorizonte für ihre Kompositionen entwirft, wodurch das Uneindeutige und die daraus reslutierende Durchlässigkeit zum festen Bestandteil ihrer Arbeit wird. Dass die unterschiedlichen Deutungshorizonte, die hierbei mit Tonalität verknüpft sind, auch den Rekurs auf ganz bestimmte Ausdrucksformen und damit verbundene Modi der Expressivität einbegreifen, mag den Hörer mitunter verunsichern oder auch – die eingangs wiedergegebenen Kritikerurteile machen dies mit ihren eklatanten Fehleinschätzungen deutlich – zu herablassender Ablehnung führen; es tangiert jedoch nicht Neuwirths kritische und historisch wachsame Haltung, die für einen kontrollierten Umgang mit den unterschiedlichen harmonischen Spielräumen des Komponierens sorgt und diese in ein integratives musikalisches Denken einbettet.



  1. Karl Lührs-Kaiser, "Du musst sie behandeln wie eine Frau." Wie die Bratsche zum Kultinstrument wurde, in: Die Welt online vom 2.2.2010, http://www.welt.de/die-welt/kultur/article6215196/Du-musst-sie-behandeln-wie-eine-Frau.html (letzter Aufruf: 8.11.2011).
  2. Reiner Kriechbaum, Musikprotokoll: Wer hören will, muss fühlen …, in: Wiener Zeitung vom 13.10.2009, online unter http://www.steirischerherbst.at/2009/deutsch/presse/pressestimmen_details.php?oid=1070 (letzter Aufruf: 8.11.2011).
  3. Matthias R. Entreß, Evolutionsschritte der neuen Musik. Das Ultraschall-Festival 2010 in Berlin, in: MusikTexte 124, Februar 2010, S. 86–87, hier S. 87. Endreß bezieht seine Aussage außerdem auf die im gleichen Konzertrahmen aufgeführten Kompositionen von Magnus Lindberg, Marc Anthony Turnage und George Benjamin.
  4. Wolfgang Andreas Schultz, Bausteine einer neuen Tonalität. Zu Krzysztof Penderecki und Lera Auerbach, in: Die Tonkunst 2 (2008), H. 1, S. 87–91, hier S. 87.
  5. Karin Hochradl, Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks gemeinsames Musiktheaterschaffen. Ästhetik, Libretto, Analyse, Rezeption, Bern 2010 (= Salzburger Beiträge zur Musik- und Tanzforschung 4).
  6. Bählamms Fest (1997–99), Musiktheater in 13 Bildern nach Leonora Carringtons Theaterstück The Baa-Lamb's Holiday auf ein Libretto von Elfriede Jelinek nach der deutschen Übersetzung von Heribert Becker. Alle im Folgenden nicht weiter nachgewiesenen Zitate entstammen der Partitur (Ricordi, München 1999).
  7. Zu dieser Sequenz vgl. ausführlich Stefan Drees, Komponieren der visuellen Dimension. Zum Video- und Filmgebrauch in Werken Olga Neuwirths, in: Ders. (Hg.), Olga Neuwirth. Zwischen den Stühlen. A Twilight Song auf der Suche nach dem verlorenen Klang, Salzburg 2008, S. 209–218, bes. S. 212–213.
  8. Vgl. Hochradl, a.a.O., S. 508–511.
  9. Vgl. Olga Neuwirth, Music and Peace, in: Drees (Hg.), a.a.O., S. 107–112, hier S. 111.
  10. Weitere Beispiele hierfür finden sich u.a. im Musiktheater Lost Highway (2002/03, Libretto von Olga Neuwirth und Elfriede Jenlinek nach dem Drehbuch von Barry Gifford und David Lynch zu David Lynchs gleichnamigem Film), so etwa in Bezug auf ein in der Partitur mit Text unterlegtes Melodiezitat aus der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bertolt Brecht (T. 99–114, Refrain aus der Ballade über die Frage: "Wovon lebt der Mensch?"), im Kontext der elektronisch verhallten Klänge von Claudio Monteverdis Madrigal Ecco mormorar l'onde (T. 1112–1126, aus dem Secondo Libro de Madrigali) oder in der Hinzufügung eines lasziven, von Big-Band-Klängen geprägten Arrangements des Lou-Reed-Songs This Magic Moment (T. 667–725).
  11. Vgl. Hochradl, a.a.O., S. 28.
  12. Ebd., S. 118.
  13. Ebd., S. 165.
  14. Nämlich in den Kompositionen locus … doublure … solus für Klavier und Ensemble bzw. Orchester (2001), Zefiro aleggia … nell'infinito … für Fagott, Orchester und Zuspiel-CD (2004), … miramondo multiplo … für Trompete und Orchester (2006) bzw. Ensemble (2007) und Remnants of Songs … an Amphigory für Viola und Orchester (2009).
  15. Stefan Drees, Ferne Klänge und "musikalische Geschichten": Olga Neuwirths "… miramondo multiplo …", in: Drees (Hg.), a.a.O., S. 311–313, hier S. 312.
  16. Gordon Kampe, Drehen, wenden, hören: Gedanken zu Olga Neuwirths Trompetenkonzert "… miramondo multiplo …", in: Seiltanz 3, Oktober 2011, S. 38–45, hier S. 40.
  17. Ebd., S. 41; darüber hinaus stellt Kampe fest, dass sich der Beginn von … miramondo multiplo … wiederum – für den Hörer weniger offensichtlich als für den Analysierenden – aus der Tonfolge der kurzen Passage "And peace on earth" aus dem Chor "Glory to God in the highest" herleiten lässt, was die Klammer zwischen den formalen Rahmenteilen weiter verstärkt.
  18. Remember basiert auf Nomis mit Death betitelter Coverversion (Arrangement: Jack Waldman) von Didos Abschiedsgesang (No. 36: Recitativo "Thy hand, Belinda" – No. 37: Song "When I am laid in earth") aus dem III. Akt von Henry Purcells Dido and Aeneas.
  19. Dies gilt beispielsweise auch für die unter dem Titel no more secrets, no more lies publizierten drei Songs auf Texte von Andrew Patner und Georgette Dee (2004), die Neuwirth in die Videoebene ihrer Komposition … ce qui arrive … (2004) integriert hat; vgl. dazu Stefan Drees, Intermediale Konzeption und Dekonstruktion des Wahrnehmungsdiskurses. Zu Olga Neuwirths "… ce qui arrive …", in: Neue Zeitschrift für Musik 166 (2005), H. 4, S. 30–33.