Vermittlung Magazin

Renaissance der Tonalität

STATEMENT
Herwig Reiter

unterrichtete als o.Prof. für Dirigieren jahr-zehntelang an der Wiener Musikuniversität. Als Komponist ist er vor allem auf dem Sektor Vokalmusik (Lied, Chor, Oper) tätig. Musik-preisträger der Stadt Wien 2011.

www.herwigreiter.com 

Der noch vor dem 1. Weltkrieg aufgebrochene, jahrzehntelang schwelende Meinungskonflikt zwischen Vertretern der tonalen und der nicht-tonalen Musik teilt die Komponisten seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in zwei Lager. Jene, die (nach den Worten Arnold Schönbergs) daran festhalten, dass "die Töne zu den Dreiklängen und diese zur Tonalität ziehen, so wie uns die Schwerkraft zur Erde abwärts zieht," und jene, die "keinen physikalischen oder ästhetischen Grundsehen, "sich zur Darstellung ihrer Gedanken der Tonalität zu bedienen", so wie "uns das Flugzeug trotzdem von der Erde weg in die Höhe führt."

 

Spätestens seit den 70er Jahren war dann dieser Konflikt mehr oder weniger entschieden. Die damals jüngere Komponistengeneration, die sich in den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik traf, wollte sich nicht nur scharf vom Faschismus, der die nicht-tonale Musik als "entartet" klassifiziert hatte, abgrenzen, sondern sich darüber hinaus, wie besonders an den Vorgängen im Revolutionsjahr 1968 zu erkennen, auf allen Gebieten von überholten Traditionen befreien und etwas "Neues" versuchen. Und da musste auf dem Gebiet der Musik nicht nur die Tonalität, die an sich eigentlich nichts mit Faschismus oder sexuellen Zwängen zu tun hat, aber schon seit Liszt und Wagner tüchtig ins Wanken gekommen war, dran glauben, sondern der gesamte Habitus traditioneller europäischer Kunstmusik. Die Tonalität hat aber bei einzelnen Komponisten überlebt und meine folgenden Überlegungen münden in die Frage, ob es angesichts der heutigen ziemlich verfahrenen Situation der Kunstmusik nicht sinnvoll wäre, sie in erneuerter Form wieder aus ihrer Ecke des Verzopften und Altmodischen hervorzuholen.

 

Definitionsfragen

 

In Hinblick auf die Entwicklung der europäischen Musik im 19. und 20. Jahrhundert, aber auch global gesehen, kann man Tonalität längst nicht mehr ausschließlich von Grundtonbezug und Obertonreihe ableiten, einer Sonne gleich, um die die übrigen Töne der Tonleiter wie Planeten auf vorgezeichneten Bahnen kreisen. Die temperierte Stimmung (ein getreues Abbild unserer Welt, in der das Ideal nie ganz erreicht werden kann, weil eben 12 Quinten nicht genau 7 Oktaven ergeben), die das Tonalitätsprinzip unterhöhlenden Modulationen und alterierten Akkorde der Spätromantik, das Schwelgen des Neoklassizismus in Bitonalität, Parallelverschiebungen und lustvoll gebrauchten Dissonanzen und (von der anderen Seite kommend) die spürbare Tonalität selbst bei dodekaphonen Werken (A. Berg, F. Martin: Petite Symphonie concertante) haben zu einem neuen Tonalitätsbegriff geführt. Dieser erweitert sich noch beträchtlich durch die Tatsache, dass seit Debussy, wie in vielen Musikkulturen außerhalb Europas, auch Tonreihen den tonalen Zusammenhang stiften können. Tonreihen, deren Grundton sich oft gar nicht feststellen lässt, wie z.B. bei der Pentatonik, bei der Ganztonleiter und den oktotonischen Reihen Messiaens, bei denen auf jeden Ganzton- ein Halbtonschritt folgt.

 

Ob wir zeitgenössische Werke als tonal oder als nicht-tonal einstufen, hängt daher nicht nur davon ab, ob sie auf eine Tonika bezogen sind, die berührt, umspielt, verlassen und wieder erreicht werden kann, oder ob sie den Gesetzen der Obertonreihe (bei Hindemith zusätzlich auch jenen der Kombinationstöne!)2 entsprechen und daher im Wesentlichen einen konsonanten Eindruck hinterlassen. Wir bezeichnen auch Musik mit ziemlich dissonantem Charakter noch als "erweitert" tonal, wenn sich die Töne wenigstens phasenweise auf einen Grundton beziehen lassen und der Dreiklang nicht völlig ausgeklammert wird. Dadurch rücken die Positionen von tonaler und nicht-tonaler Musik etwas näher aneinander. Bezüglich Verstehen und Gefallen gibt es aber doch einige markante Unterschiede:

 

Verstehen

 

Motivische Kompositionsweise und das damit zusammenhängende "Verstehen" von Musik werden noch 1926 von Schönberg sehr überzeugend für die Zwölftonmusik reklamiert: 

 

"Die Tonalität wird mit Recht aus den Gesetzen des Tons abgeleitet. Die Musik aber folgt außer diesen und den Gesetzen, die sich aus der Kombination von Zeit und Ton ergeben, auch noch den Gesetzen unseres Denkens. Dieses nötigt uns, die zusammenhangbildenden Elemente auf solche Weise anzuordnen und so oft und so plastisch hervortreten zu lassen, dass die kurze Zeit, die uns der Ablauf der Ereignisse lässt, genügt, um die Gestalten zu erkennen und ihren Sinn zu begreifen."3

 

In der Praxis sind Schönberg, seine Mitstreiter und vor allem seine Nachfolger aber oft weit über die  Grenzen des Verstehens gegangen. Bei den meisten dodekaphonen Werken werden sämtliche Redundanz ermöglichenden Bildungen wie zum Beispiel die von Schönberg oben genannten "plastischen" Motive, aber auch wörtliche Wiederholungen, Sequenzen, Ostinati u.a. eher unterdrückt als gefördert. Und in der seriellen und nachseriellen Musik wird die motivische Arbeit  vollends zugunsten von Zahlen- und Klangstrukturen aufgegeben, die beim Hören kaum zu entschlüsseln sind, wobei hier auch der gleichbleibende Puls (als rhythmisches Analogon zur Tonika) durch aufgesplitterte Rhythmen, das Übereinander von N-tuolen oder die Einbeziehung ametrischer Passagen möglichst außer Kraft gesetzt wird.

 

Das war von Schönberg (siehe oben) nicht so geplant. Seine Abneigung gegen das "Populäre", "Gemeinverständliche",4 haben ihn, seinen Kreis und die meisten seiner Nachfahren aber dazu gebracht, "plumpe" Fasslichkeit tunlichst zu vermeiden und den Elfenbeinturm vorzuziehen.

 

Nun ist das Verstehen von auf dem Papier logischen, aber für das Ohr komplexen Strukturen oft  auch ein Problem mangelnder musikalischer Bildung. Aber nicht nur! Nach vielen Jahrzehnten Hörerfahrung steht auch heute noch die Mehrzahl der "gebildeten" Hörer recht hilflos vor dodekaphoner, serieller und nach-serieller Musik, gibt es schließlich auf,  in den verwirrenden Klängen nach "Sinn" zu suchen - und langweilt sich. Der Zuhörer spürt zwar eine Logik, die für seine Ohren schon allein durch die Vermeidung des Gewohnten entsteht, kann aber die Musik trotzdem nur selten innerlich nachvollziehen.

 

Im Gegensatz dazu ist vielen tonalen Kompositionen der Moderne gemeinsam, dass sie ein Netz von einprägsamen, sich wiederholenden Elementen ausbreiten, das zumindest bei mehrfachem Hören in die Lage  versetzt, die Musik wiederzuerkennen, mitzuvollziehen, dabei bewusst oder unbewusst Erwartungen an ihren Fortgang anzustellen, kurzum die Musik trotz ihrer modernen Tonsprache  ähnlich wie klassische Werke zu "verstehen".

 

Gefallen

 

Noch wichtiger als das Verstehen ist beim Erlebnis von Musik das Gefallen, die emotionale Identifikation. Da von den meisten Personen, denen Neue Musik nicht gefällt, die dissonante Struktur als Hauptgrund ihrer Abneigung angegeben wird5,  müssen wir einen Blick in diese Richtung werfen, auf die sogenannte Emanzipation der Dissonanz.

 

Physikalisch und neurologisch gesehen ist der Begriff der Dissonanz gut abgesichert. Man kann die Tatsache, dass Intervalle mehr oder weniger konsonant sein können, nicht gänzlich leugnen, denn es gibt dafür handfeste Beweise: die Obertonreihe, die Funktionsweise unseres Gehörorgans (bei Dissonanzen überlagern sich die "kritischen Bänder" der Cochlea) und das Phänomen der Schwebung.6

 

Im musikalischen Kontext allerdings lässt sich die Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz nicht so leicht bestimmen. In der europäischen Musikgeschichte sind immer mehr dissonante Intervalle zu Konsonanzen geworden. Sogar noch im 20. Jahrhundert: z.B. weist Hindemith in der Theorieder großen Sekund einen Platz bei den eher dissonanten Intervallen zu, in seinen Kompositionen hat sie aber oft nahezu den Status einer Konsonanz. Und wieviel Rauigkeit einem ohnedies an die Schwebungen des temperierten Tonsystems oder den scharfen ("dissonanten") Klang der Violine in hoher Lage gewöhnten abendländischen Musikhörer zumutbar ist, kann objektiv ebenso wenig entschieden werden wie die Frage, ob die Dissonanzenfülle im Kontext nicht-tonaler Musik stört, oder ob sich die Hörgewohnheiten schon daran angepasst haben.8

 

Von tonaler Seite her ist aus drei Gründen zu bezweifeln, dass die Emanzipation der Dissonanz tatsächlich zu mehr Freiheit führt. Denn:

 

a)     Die Gleichstellung nimmt den einzelnen Intervallen ihren Charakter. Das Problem erinnert mich an die Verdrängung und Ausrottung der in ihrer Eigenart bezaubernden alten Weltmusikkulturen durch die internationale Popmusik.

 

b)     Der häufige Gebrauch dissonanter Zusammenklänge "komprimiert" den Spannungsverlauf der Musik. Dadurch dass bei Neuer Musik fast durchgängig Akkorde verwendet werden, die in irgendeiner Form kleine Sekunden enthalten, spielt sich ein Großteil dieser Musik im Bereich spannungsgeladener und, was noch mehr zählt, fast spannungsgleicher Intervallkombinationen ab.  Für das subjektive Empfinden geht dabei viel an Farbigkeit verloren – ganz im Gegensatz zu den Absichten Schönbergs, der von Klangfarbenmelodien träumte9 – und bleibt eine Welt in Grautönen übrig, die für den ungeübten Hörer noch dazu „böse“ klingt. So gesehen beraubt die Emanzipation der Dissonanz die Komponisten eines ihrer wichtigsten Gestaltungs- und Ausdrucksmittel: des harmonischen Kontrasts.

 

c)     Die neuartigen Tonverbindungen mit den "emanzipierten" großen Intervallen stellen einerseits die Sänger vor reizvolle Aufgaben. Andererseits wirkt sich diese Kompositionsweise, gepaart mit der forcierten Verwendung extremer Lagen und der Einbeziehung von Stimmgeräuschen verheerend aus: Viele der besten SängerInnen und so gut wie alle Weltstars fürchten sich vor dieser Art von Gesangsmusik wie der Teufel vor dem Weihwasser, und man kann ihnen das wegen der damit verbundenen gesundheitlichen Strapazen für das Stimmorgan nicht einmal verübeln. 

 

Publikum

 

Mangels Gefallen an einer Musik, die zwar nicht dissonant gemeint ist, aber von den meisten Hörern so empfunden wird, hat sich das große Publikum weltweit von der nicht-tonalen Musik zurückgezogen und ist schon lange zur tonalen, besser verständlichen und entspannteren historischen Musik abgewandert, wobei die tonalen Komponisten des 20. Jahrhunderts bis einschließlich Britten von vielen Musikliebhabern toleriert werden oder in Einzelfällen sogar ähnliche Verehrung wie die klassischen Heroen der Tonkunst genießen.

 

Auf dem Sektor der Neuen Musik, die noch vor gar nicht so langer Zeit nur einen kleinen, aber feinen Personenkreis von Musikinteressierten angesprochen hat, ist es mittlerweile zu einem starken Publikumszuwachs gekommen, vor allem wenn hochklassige Ensembles auftreten wie bei WIEN MODERN.

 

Tonale und nicht-tonale moderne Musik sprechen vermutlich nicht denselben aber einen zahlenmäßig vergleichbaren Personenkreis an. Sie haben aber beide im Vergleich zu Konzerten mit Alter Musik oder klassischer Musik unter der Leitung von berühmten Dirigenten oder mit Opern, in denen große Stars zu hören sind, und natürlich zu Pop-Events nur geringe ökonomische und touristische Bedeutung. Sehr wahrscheinlich würde daran auch eine der Moderne mehr Raum gebende Programmierung der großen Musikveranstalter nicht viel ändern. Denn das Hindernis liegt bei der heute komponierten Musik selbst.

 

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass es in der modernen Literatur, Malerei und Architektur ähnliche Akzeptanzprobleme wie bei moderner Musik gegeben hat, mittlerweile aber in diesen Künsten mit viel breiterem Interesse des Publikums als bei moderner Musik gerechnet werden darf.10

 

Neue Musik und Fortschritt

 

Von Seite der Kreativen war schon am Beginn der 80er Jahre Überdruss an der damaligen Musikentwicklung zu spüren. Der erste, der in Wien den Standpunkt der Avantgarde hinterfragte, war und ist gleichzeitig einer ihrer wichtigsten Vertreter: Friedrich Cerha, derzeit wohl der international bekannteste österreichische Komponist. Er lässt in seinem 1980 entstandenen Aufsatz mit dem Titel "Ist die Moderne erschöpft?"11 zwar serielle Verfahren noch als "Mittel zum Hervorbringen komplexer, feiner Gewebe" gelten, schildert auch die "Freude an ungewohnten, durch Massenstrukturen hervorgebrachten Klangbildern", wie er sie selbst in seinen berühmten, auf Clustern aufgebauten Spiegel I - VII verwendet hat, schreibt aber dann kritisch weiter:

 

"Seither sind 20 Jahre vergangen. Während epigonale Produkte aus den beschriebenen Richtungen noch immer unter der Etikette 'Avantgarde' durch die Konzertsäle geistern, beschäftigt schöpferische Naturen längst anderes... Auf puristische Konzentration folgt häufig ein Streben nach größerem Reichtum. Ihn anderswo als in den von der jüngeren Entwicklung vernachlässigten Gebieten wie Harmonik, Melodik und Rhythmik zu suchen, ist kaum möglich. Das führt aber unweigerlich zur Berührung mit der Tradition."

 

Seit dieser Diagnose aus dem Jahr 1980 sind nun wieder 30 Jahre vergangen. Die "vernachlässigten Gebiete Harmonik, Melodik und Rhythmik" sind in Österreich weiterhin vernachlässigt geblieben. Die nicht-tonale Neue Musik, allmählich schon etwas in die Jahre gekommen, schon lange nicht mehr ausgebuht, von der Presse freundlich behandelt, mit Subventionen verwöhnt, nach jahrzehntelanger Ausgrenzung nun auch wichtige Schaltstellen musikalischer Macht in Händen haltend, pocht weiterhin darauf, im Besitz der Zauberformel des musikalischen "Fortschritts" zu sein. Ein Fortschritt, der es verdient, etwas genauer betrachtet zu werden.

 

Es fällt nämlich auf, dass die Fortschrittlichkeit eines Musikwerks heute vorwiegend an dem bei einer Komposition verwendeten musikalischen Material und nicht, wie bei anderen Künsten oder Epochen, an ihrem Weltbild abgelesen wird. Als fortschrittlich wird in der Regel jene Musik betrachtet, die die vorangegangenen Stilrichtungen und Komponisten an Komplexität überbietet. Der Fortschritt führt also nicht etwa zu mehr Menschlichkeit, sondern eben vom kleinstufigen Choral zum großintervalligen Zwölftongesang, vom Quintorganum zum Cluster, von der Knochenflöte zu digitalen Sounds und vom Schwer/Leicht der gesungenen Sprache bis zu aberwitzigen rhythmischen Konstrukten.

 

Die Sache hat aber einen Haken: die Forderung nach stetiger Innovation, schon von Richard Wagner erhoben, ist bereits an ihre Grenzen gestoßen, ähnlich wie manche sportlichen Rekorde kaum mehr über- oder unterboten werden können. Abgesehen von künftigen Möglichkeiten durch Elektroakustik und Digitalisierung war bezüglich des zur Verfügung stehenden musikalischen Materials schon alles da. Für den heutigen Komponisten erhebt sich daher die Frage, ob man überhaupt noch melodische Figuren, Spielweisen, Akkorde oder Rhythmen finden kann, die andere nicht schon vorher benutzt haben. Ob nicht alles, was wir schreiben, sogar wenn es sich stilistisch um Neue Musik handelt (!), zwangsläufig Zitatcharakter hat. Ob das Suchen nach neuem musikalischen Material überhaupt noch sinnvoll ist oder nur mit sich bringt, dass wir den Stil der 70er Jahre perpetuieren.

 

In einer melancholischen Anwandlung hat einer meiner lieben Komponistenfreunde dieses Szenario per Mail an mich so gezeichnet: "Hab‘ immer das Gefühl gehabt, dass das Schiff der Musikgeschichte langsam auf dem Meer entschwindet. Man sieht noch die glücklichen Letzteingestiegenen (Messiaen, Schostakowitsch), erleichtert plaudernd mit anderen (Monteverdi bis Ravel), und ich stehe auf dem Hafenmolo und winke ihnen mit ein paar Notenblättern Abschied zu."

 

Zwänge

 

Die Situation heute ist eine gänzlich andere als in der Aufbruchsstimmung von 1968.  Die erwartete "Befreiung" durch die Aufgabe der Tonalität ist ausgeblieben. Im Gegenteil, eine Fülle von Zwängen hat sich daraus ergeben, dass man Anklänge an tonale Musik vermeiden will. Drei davon seien stellvertretend genannt:

 

a) Als besonders schlimm gilt es, nachsingbare Melodien in die Welt zu setzen, was auf Schönberg zurückgeht, der 1910 folgendes Statement abgab:

 

"Melodie ist die primitivste Ausdrucksform der Musik. Ihr Zweck ist: einen musikalischen Gedanken durch viele Wiederholungen (motivische Arbeit) und möglichst langsame Entwicklung (Variation) so darzustellen, dass selbst der Begriffstützigste folgen kann. Sie behandelt den Zuhörer wie der Erwachsene das Kind oder der Verständige den Idioten."12

 

b) In Darmstadt wurde angeblich ein sehr bekannter Komponist ausgepfiffen, als er es wagte,  einen Dreiklang als Schlussakkord zu setzen. Ich war nicht dabei. Sollte die Geschichte nur erfunden sein, steckt doch ein Körnchen Wahrheit dahinter, denn unter "fortschrittlichen" Komponisten werden auch heute noch Dreiklänge, zumindest an prominenter Stelle, vermieden.

 

c) Der Terminus "offene Form" klingt für kreative Menschen, die gerne Regeln  hinterfragen, interessant. "Form" ist aber nicht nur geregelter Ablauf, sondern beim Hören von Musik, ohne dass es uns auffällt, ständig gewärtig. Man kann seinem Gehirn den Drang, Zusammenhänge zwischen Höreindrücken herzustellen, nicht verbieten. Wenn keine  kompositorischen Bezüge zwischen einzelnen Figuren und Abschnitten von Musik da sind, dann entsteht eben ein Gewurstel. Und auch der gut gemeinte Appell an die Fantasie der Zuhörer geht ins Leere. Es ist zu bezweifeln, ob Zuhörer in der Lage sind, eigene Zusammenhänge in Musik hineinzudenken, die über Klischeevorstellungen hinausgehen. Zurück bleiben bestenfalls, wie im Fall von John Cages berühmtem 4.33,  "amüsierte" Hörer.

 

Toleranz

 

Aus den für diesen Artikel ausgewählten Schönberg-Zitaten und aus vielen anderen Äußerungen des Meisters geht hervor, wie konsequent er die eigenen künstlerischen Ideale verfolgte. Er verdient dafür alle Hochachtung.

 

Es ist aber angesichts des überwältigenden Siegeszugs der Demokratie doch überraschend, dass sich im Verlauf von vielen Jahrzehnten bei seinen Nachfolgern an dieser zwar lauteren, aber intoleranten Haltung kaum etwas geändert hat. Im Bereich der Neuen Musik wurde und wird, offenbar aus der Überzeugung, höhere Einsicht in die Dinge zu haben, das demokratische Nebeneinander verschiedener künstlerischer Standpunkte nur ungern, wenn überhaupt geduldet.

 

Beispiele: Bei den Festivals moderner Musik in Wien war viele Jahre kaum ein Werk eines tonalen Komponisten zu hören. Partituren, die nicht das charakteristische Notenbild Neuer Musik zeigen, werden bei Kompositionswettbewerben kommentarlos ausgesiebt. Studenten wird nahegelegt, keine tonalen Werke als zeitgenössische Pflichtstücke bei Prüfungen zu verwenden. Mit einem Wort: es hat sich im deutschsprachigen Bereich eine Art "Establishment" der Neuen Musik gebildet, dessen Durchlöcherung erst langsam einsetzt.  

 

Vorboten davon in Wien: Arrivierte tonale Meister der frühen Moderne finden seit Neuestem auch in die Programme des Klangforum Wien Eingang. Sogar das Wort "Melodie" wurde dort kürzlich (im positiven Sinn!) zu Werbezwecken benutzt. Das Theater an der Wienund die Neue Oper Wien bringen gelegentlich tonale Werke lebender Komponisten zur Uraufführung, auch wenn sie sich damit abwertender Kritik aussetzen. Und es gibt immer mehr Diskussionsrunden zum Thema, ob und wie es mit der Musik heute weitergehen könne.

 

Gemessen aber an der kulturpolitischen Aufgabe, die vor uns liegt, nämlich das entflohene Publikum der Liebhaber klassischer Musik für die Musik von Heute zurück zu gewinnen, sind diese zaghaften Ansätze nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Marketing, das die Konsumenten auf Neue Musik neugierig machen soll, ist oft nicht weniger raffiniert als bei anderen schwer verkäuflichen Produkten, aber es hilft nicht nachhaltig, solange es kaum Komponisten gibt, deren Musik auch dem weniger vorgebildeten Hörer eine Chance lässt. Denn diese Musik müsste freiwillig auf einen Teil möglicher Komplexität verzichten und zumindest partikular die Tonalität miteinbeziehen, um all jenes zum Ausdruck zu bringen, was mit nicht-tonalen Mitteln nur schwer dargestellt werden kann: Ruhe und Schönheit, Frieden und Freude, Liebe und Glück.

 

Pluralismus

 

Seit Beginn der Moderne hat sich der Fluss der Musikentwicklung in mehrere Arme geteilt. Wir mussten lernen, Stile nicht mehr als zeitlich aufeinanderfolgende Epochen, sondern auch als Neben- und Ineinander zu begreifen. Aus diesem Geflecht treten im Augenblick folgende stilistische Tendenzen besonders hervor:

 

1) Aufwertung des Klanglichen: Während instrumentale Verfremdungen wie z.B. das Geklapper auf Flötenkörpern oder das Pedalgeräusch teurer Konzertflügel aber auch die beliebten, aus dem Internet herunterzuladenden Multiphones zu langweilen beginnen, gibt es auf dem Sektor der elektronischen Klänge und der computergesteuerten Musik zweifellos noch viel zu entdecken. Die Gefahren einer allzu konsequent auf das Klangliche zielenden Musik aber sind, dass sich anstelle eines zwingenden formalen Aufbaus nur Aneinanderreihungen von Klangabschnitten ergeben, dass der Deutungsspielraum des Interpreten vermindert oder ganz ausgeschaltet wird und vor allem: dass sich in dieser Klangkunst das Verständnis für das "Sprachliche" und den "Atem" in der Musik allmählich verliert, was zu Lasten einiger jener Fähigkeiten ginge, die wir seit Jahrhunderten stolz als "Musikalität" bezeichnen. 

 

2) Reduktion der Mittel: ein Gedanke, der angesichts mancher Auswüchse der heutigen Musik sympathisch und vernünftig klingt. Er steht mit der Tonalität in enger Verbindung, der sich heute viele junge Komponisten wieder zuwenden. Faszinierend daran ist auch die Parallelität zur Ökologie, die uns eine bewusste Beschränkung in Bezug auf Umwelt und Ressourcen empfiehlt, und die Aussicht, mit einfacherer Musik mehr Hörer zu erreichen. – Es ist aber fraglich, ob man sich mit der Beschränkung nicht auch eine Verharmlosung der von der Neuen Musik in reichem Maße entwickelten Ausdrucksmöglichkeiten einhandelt. Nur in Verbindung mit einem sehr persönlichen geistigen Konzept, wie zum Beispiel bei Arvo Pärt, kann diese "Neue Einfachheit" funktionieren. Im amerikanischen Minimalismus feiert sie sogar Triumphe.

 

3) Crossover: der Abbau der Berührungsängste zwischen E- und U-Musik. Einige moderne Komponisten wie Strawinsky, Weill, Gershwin oder Bernstein haben sich schon früh mit dem Jazz lebhaft auseinandergesetzt. Erst die Schönberg-Schule "zog einen dicken Trennungsstrich zwischen Moderne und Jazz, aus mangelnder Sachkenntnis oft mit höchst zweifelhaften Argumenten."13 -  Erfreulich, dass es hier auch schöne Gegenbeispiele gibt, wie etwa das schon länger zurück liegende gemeinsame Auftreten von Friedrich Cerha und Frank Zappa in Wien, die auch für die "Klassiker" unter den Musikstudierenden sehr anregende Institutionalisierung von Lehrgängen für Jazz und Pop an den Musikhochschulen und das unverkrampfte Zusammenwachsen der einstigen Gegenpole, das man bei vielen jüngeren Komponisten beobachten kann.

 

4) Flucht in die Provokation: Wir alle fühlen, dass das Zeitalter des verklärenden Idealismus schon lange und endgültig vorbei ist und setzen uns in der zeitgenössischen Kunst vermehrt mit politischer Realität, psychischer Krankheit, Verbrechen, Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit auseinander. Wenn man den Satz gelten lässt, dass man nach Auschwitz kein Gedicht mehr schreiben könne, gilt das auch genauso für Musik. Wer nach Auschwitz noch Dreiklangsmusik schreibt, der "lügt" also in gewisser Weise, eine solche Musik ist gemessen am Heute zu schön, um wahr zu sein. – Quälende Musik, zur Stilprämisse erhoben, lügt aber genauso: sie verschweigt das Gute. Und indem sie die Welt wieder und wieder schwarz malt, verliert das, was sie anprangern möchte, allmählich seinen Schrecken, wird in gewisser Weise fast "beworben".

 

Je mehr wir uns der unmittelbaren Gegenwart nähern, desto ungreifbarer werden die stilistischen Positionen. Es scheint so, als würden manche der jüngeren und jüngsten Komponisten zwischen all diesen Tendenzen stehen und auch bei der Wahl zwischen Tonalität und Atonalität je nach Werk und Passage ihre ganz persönlichen Entscheidungen treffen. Wir sind anscheinend in jenem Moment, wo sich ein Endpunkt der Entfaltung des musikalischen Materials abzeichnet, bei einer totalen Vermischung der Stile angelangt, bei einem "postmodernen" Pluralismus, der von vielen Experten noch immer kritisch, wie etwas Unreines, betrachtet wird.  

 

Durch den Pluralismus verringert sich der Gegensatz zwischen tonaler und nicht-tonaler moderner Musik noch weiter. Man bedient sich eben beider Möglichkeiten. Darauf muss wohl auch die Ästhetik der Zukunft reagieren. Die künstlerischen Abenteuer, die im 21. Jahrhundert auf uns zukommen, werden vermutlich nicht mehr im selben Ausmaß wie heute von Innovation und Fortschritt bestimmt sein. Nicht die Weiterentwicklung des musikalischen Materials (z.B. in Richtung Mikrotonalität) wird im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern die besondere klangliche oder interdisziplinäre Gestaltungsidee eines Stücks, die Individualität, das Unikat, die Möglichkeit, aus dem gleichen Material ganz Anderes zu machen und der Brückenschlag zwischen den Künsten bzw. zwischen Musik und realem Leben. Es geht anscheinend darum, das gigantische Terrain, das die Moderne ohne Rücksicht auf die Adressaten der Musik abgesteckt hat, bewohnbar zu machen und es mit Leben zu erfüllen.

 

Vor allem aber geht es um die Rückgewinnung der künstlerischen Freiheit. Wir sind in der Musik spät dran. In der Bildenden Kunst und in der Literatur hat die totale Befreiung von stilistischen Zwängen längst stattgefunden.

 

Resümee und Ausblick

 

Der Pluralismus kann auch unter dem Gesichtspunkt der Marktwirtschaft betrachtet werden, er legitimiert sich dadurch, dass er jedem Musikkonsumenten die Möglichkeit verschafft, Musik seiner Wahl zu hören. Innerhalb dieser Betrachtungsweise, die man als "kommerziell" bedauern oder wegen ihrer Toleranz begrüßen kann, ist die Sehnsucht bei vielen Komponisten groß geworden, wieder mehr Menschen anzusprechen, vor allem jenes relativ große, musikgebildete Publikum, dem Pop allein nicht genügt und das von zeitgenössischen Werken oft enttäuscht wurde.

 

Dieses Publikum ist verwöhnt durch die Melodik klassischer Musik, die nicht nur emotionell attraktiv ist ("Identifikation"), sondern auch zur Fasslichkeit beiträgt ("Verstehen"). Die Melodik aber wird in der zeitgenössischen Musik sträflich vernachlässigt. Würde sie wieder mehr berücksichtigt, käme die Tonalität stärker zum Tragen, denn nachsingbare Melodien spielen sich fast ausschließlich im tonalen Raum ab.

 

Klassische Musik befriedigt außerdem durch den Wechsel von Spannung (Dissonanz) und Lösung (Konsonanz). Die "emanzipierte" Moderne hat dem (siehe oben) nichts entgegenzusetzen und scheut sich zudem, offenbar noch immer unter dem Trauma der Weltkriege leidend, die Sehnsucht der Menschen nach Harmonie zu bedienen. Gewisse Ausdrucksbereiche kommen daher in Neuer Musik nur selten vor, etwa: Grazioso, allegretto, scherzando, dolente, soave, maestoso und cantabile. (Wenn von ideologischer Seite her überhaupt geduldet wird, von musikalischem "Ausdruck" zu sprechen.) Ich sehe daher einen der wichtigsten Aspekte zukünftiger Musik darin, dass sie die Bevorzugung des Dissonanten aufgibt und den ganzen Bogen der Intervalle ausschöpft. Was auf eine Mitsprache der Tonalität hinausläuft.

 

Das bei nicht-tonaler Musik oft anzutreffende, die Apperzeption überfordernde Übereinander von komplexen Strukturen kann manchmal zu starken visionären Hörerlebnissen führen, hält aber auf Dauer den Vergleich mit tonalen klassischen Werken, die an die Aufnahmefähigkeit des Hörers gut angepasst sind, nicht aus. Wir haben uns in kreativer Weise schon ab dem 19. Jahrhundert von den klassischen Formen immer mehr gelöst. Form überhaupt in Frage zu stellen heißt aber, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Es geht nicht um das Ersetzen von Form durch Struktur, sondern eher um die Verbindung der beiden bzw. um die Entwicklung einer werkindividuellen Formensprache, wofür es unzählige Möglichkeiten gibt.

 

Unsere Zeit verfügt über SängerInnen und InstrumentalistInnen, die ein nie dagewesenes Maß an Ausdruckskraft und Virtuosität erreicht haben. Nicht wenige zeitgenössische Komponisten belästigen aber die Ausführenden, die der Musik ihr Herz und oft auch ihre Gesundheit (!) schenken, mit unnötigen Schwierigkeiten. Auch von Seite der Interpreten her ist also die Flucht in die klassische oder Alte Musik verständlich, bei denen tonale, innerlich vorauszuhörende Gebilde zum seelenvollen Gestalten einladen.

 

Das oben beschriebene Fortschrittsmodell ist aus den Köpfen unserer Kulturpolitiker, denen Jahrzehnte eingehämmert wurde, doch endlich "zeitgemäß" zu agieren, wahrscheinlich noch lange nicht zu vertreiben. Für die Musikkonsumenten hatte es nie wirkliche Bedeutung. Diese interessiert auf Dauer nicht, ob eine Musik neu, noch neuer oder am allerneuesten ist, sondern nur, ob sie "überzeugend" ist, etwas "sagt" und nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus dem Herzen kommt.

 

Unter der Voraussetzung, dass sich der Stilpluralismus durchsetzt, haben Komponisten in Zukunft jede erdenkliche Freiheit, sich in individueller Weise zu verwirklichen. Sie können die Welt so ideal darstellen, wie wir sie alle gerne hätten, oder so schlecht, wie sie gar nicht ist, können nach Lust und Laune ästhetische Konstrukte, "Klangwolken" oder gefühlsbetonte "Ohrwürmer" anbieten. Ihre schönste Aufgabe wird aber die sein, die es immer schon war: ihre Zuhörer mit Musik im Innersten zu treffen, ihnen Energie zu senden (nicht zu rauben), wenigstens für kurze Augenblicke zu vermitteln, dass das Leben lebenswert ist.

 

Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, wird die Tonalität innerhalb dieser zukünftigen Musik eine tragende Rolle spielen.

 

 

  1. Arnold Schönberg: Schöpferische Konfessionen, Zürich 1964.
  2. Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1940.
  3. Schönberg.
  4. ebda.
  5. Matthias Petzold: Verweigerte Begegnung, www.petzold-jazz.de, 2008. 
  6. Robert Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, Spektrum, 2001.
  7. Hindemith.
  8. Jourdain.
  9. Schönberg.
  10. Petzold.
  11. Friedrich Cerha, Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001.
  12. Schönberg.
  13. Petzold.