Vermittlung Magazin

Zitat, Montage und Collage bei Bernhard Gander

Einige Anmerkungen zur Verwendung tonaler Versatzstücke

ESSAY
Axel Petri-Preis

studierte Musik-erziehung, Germanistik und Musikwissenschaft in Wien. Musikerzieher, Autor von musikwiss. Texten und Einführungstexten und Dramaturg (Neue Oper Wien). Leiter der Musikvermittlung und redaktioneller Leiter von terz.

www.terz.cc

Bernhard Gander wurde bereits verschiedentlich attestiert, ein Komponist ohne ästhetische Scheuklappen zu sein.1 Dies rührt einerseits aus der Wahl seiner Inspirationsquellen, die zumeist der Populärkultur und/oder des Alltags entspringen: Actionfilme (wie "Spider-Man" in Peter Parker für Klavier) nennt er als Bezugspunkt ebenso wie Horrorfilme  (lovely monster für großes Orchester), In-Diskotheken  (fluc’n’flex für Akkordeon) oder Baustellen (fête.gare für Ensemble). Bernhard Gander behält diese Einflüsse nicht für sich, ganz im Gegenteil macht er sie mit seinen kurzen, meist hintergründig-ironischen, Kommentaren zu einem Bestandteil der Kompositionen und betont in diesem Zusammenhang auch immer wieder, für das Publikum zu schreiben, dem er beim Hören seiner Werke auch durchaus eine Hilfestellung geben möchte:2 ein bemerkenswertes Bekenntnis, das wohl der Mehrzahl lebender KomponistInnen nicht so leicht über die Lippen käme. Auf der anderen Seite rührt jener Befund aus Ganders Verwendung unterschiedlicher Zitate und Versatzstücke quer durch alle musikalischen Stile und Epochen. Weit entfernt von Beliebigkeit montiert und implementiert Gander sie auf verschiedene Weise in seine Werke und semantisiert durch die jeweilige Herkunft der Zitate – deren ursprüngliche Kontexte und die mit ihnen verbundenen Konnotationen – die eigenen Kompositionen. Dabei arbeitet er mit unterschiedlichen Graden der Integration und Desintegration (zum Wesen des Zitats vgl. den nächsten Abschnitt), was jeweils eine verschieden starke Verfremdung zur Folge hat und solcherart den Bruch des "Fremdem" mit dem "Eigenen" und damit die Wiedererkennbarkeit durch die HörerInnen beeinflusst.

 

Der Einsatz von Zitaten und der Technik der Montage darf bei Bernhard Gander freilich nicht auf den Einsatz "fremden Materials" allein beschränkt betrachtet werden. Vielmehr ist die Montage ein wesentlicher Bestandteil von Ganders Kompositionstechnik, in der er stark von Gesten (Klangaktionen) ausgeht – besonders anschaulich in seinen Skizzen erkennbar, die zunächst auf Millimeterpapier geschehen – die er, bewusst mit Brüchen arbeitend, aneinander montiert und miteinander konfrontiert. In einem Gespräch mit dem Autor meinte Bernhard Gander in Bezug auf sein Ensemblestück Der Melonenbaum, dass er beim Komponieren wohl eine klare Form der Werke im Kopf habe, dass aber einzelne Klangaktionen durchaus austauschbar wären.3

 

Dieser Aufsatz wird sich auf die Verwendung fremder Materialien und da im Besonderen auf tonale Versatzstücke in einigen Werken Bernhard Ganders konzentrieren. Deutlich hörbar finden nämlich immer wieder tonale Elemente Einzug in Ganders Kompositionen, bei denen es sich jedoch nie um Stellen, die von Gander selbst imaginiert wurden, sondern stets um Zitate handelt. Um in einem weiteren Schritt den Einsatz von Zitaten bei Bernhard Gander zu zeigen, soll zunächst in aller Kürze auf die Begriffsdefinitionen von Montage, Zitat und Collage eingegangen werden.

 

 

Einige Anmerkungen zur Begrifflichkeit von Montage, Zitat und Collage

"Die Begriffe Zitat, Collage und Montage sind Bereichen entlehnt, die mit Musik, so scheint es, nichts oder nur wenig zu tun haben. Zitate begegnen vornehmlich in der Literatur bzw. in der Sprache; Collagen sind in der bildenden Kunst zu Hause, während das Wort Montage eher an technische Unternehmungen denken läßt. Alle drei Begriffe haben (...) eines gemeinsam: sie versuchen, Erscheinungsformen zu benennen, die auf der Verkoppelung heterogener Elemente bzw. der Verschränkung disparater Materialien beruhen."4

Elmar Budde spricht in seinem Aufsatz "Zitat, Collage, Montage" einerseits die Herkunft der Begriffe (sie alle stammen ursprünglich nicht aus der Musik), andererseits bereits das Problem ihrer Definition an. Da in diesem Aufsatz nicht der Platz ist, die gesamte Entwicklung der drei Begriffe darzustellen, soll sogleich auf die musikalische Anwendung eingegangen werden, wobei auftretende begriffliche Schwierigkeiten geklärt werden sollen.

 

Terminologisch klar abzugrenzen ist das Zitat, das nach Hans Emons dreifach determiniert ist. "Seine ästhetische Wirksamkeit hängt einerseits von der Rezeptionsleistung des Lesenden (und in der Musik der Hörenden, Anm.) ab: nur das als solches wahrgenommene Zitat existiert in diesem Sinne wirklich. Darüber hinaus ist es zweifach codiert als Element des originären Textes, dessen Kontext es beschwört, und als Element des neuen Textzusammenhangs."5 Während die doppelte Kodierung des Zitats ohne Zweifel eine wesentliche Funktion desselben ist, muss die Feststellung, nur ein Zitat, das wahrgenommen werde, sei auch eines, modifiziert werden. Gemeint ist wohl, dass nur ein Zitat, das als solches wahrgenommen werden kann, auch als solches existiert. Denn ob ein Zitat erkannt wird oder nicht, hängt einerseits von der Vorbildung der RezipientInnen ab und andererseits vom Grad der Integration in die neue Komposition, wie noch gezeigt werden wird.

Brunhilde Sonntag weist dem musikalischen Zitat fünf Funktionen zu, von denen besonders drei für den weiteren Aufsatz von Relevanz sind, und deshalb zitiert werden sollen:

"1) [es] repräsentiert in vielen Fällen nicht alleine das Gesamtwerk, aus dem es stammt, sondern mit diesem die kulturellen, gesellschaftlichen und ideologischen Hintergründe der Epoche, der (...) [es] angehört.

2) das Zitat kommentiert als historischer Gegenstand in seiner neuen musikalischen Umgebung (...).

(...)

5) das musikalische Zitat, auch das der Gegenwart, fungiert als Repräsentant bestimmter Realitäten. In der künstlerischen Vereinigung mehrerer Zitate eröffnet sich ein Pluralismus von Realitäten und Realitätsbezügen, die sich auf einer Meta-Ebene ästhetisch neu präsentieren."6 Weiters definiert Sonntag in ihrer Abhandlung verschiedene Stufen der Integration bzw. Desintegration in die neue Komposition, die von der Adaption und Verarbeitung bis zur Abgrenzung durch fremde Medien reicht.7 Wie noch zu zeigen sein wird, nützt Bernhard Gander in seinen Kompositionen das gesamte Spektrum, das der Germanist Herman Meyer8 als Spannungsfeld zwischen Assimilation und Dissimilation beschreibt, aus.

 

Etwas schwieriger als die Definition des Zitats ist die Abgrenzung der Begriffe Collage und Montage, die in der Fachliteratur häufig synonym verwendet werden. Klar ist, dass "die mit den Begriffen Montage und Collage bezeichneten literarischen (und gesamtkünstlerischen) Verfahrensweisen zu den ausgeprägtesten Stilmitteln der modernen Literatur / Kunst zählen."9 Hans Emons weist darauf hin, dass die musikalische Montage (im Gegensatz zur Definition der literarischen Montage nach Viktor Zmegac10) nicht zwingend auf die Verwendung von Fremdmaterial angewiesen sei und verweist auf die Baukastenmethode Erik Saties.11 (Wichtig ist außerdem der Hinweis von Zmegac auf das Spannungsfeld zwischen demonstrativer und verdeckter Montage.12) Dies ist vor allem mit Blick auf die Kompositionstechnik Bernhard Ganders, die bereits weiter oben beschrieben wurde, ein wichtiger Befund, da er (oft von filmischen Montagetechniken beeinflusst) nicht nur fremdes, sondern (in der Mehrheit) eigenes Material montiert.

 

Zur Abgrenzung der Collage von der Montage meint Elmar Budde, dass sich der Begriff Collage von einer rein technischen Bezeichnung zu einem ästhetisch-künstlerischen Prinzip geweitet habe, während der Begriff Montage in seinem Bedeutungsanspruch relativ neutral geblieben sei,13 Hans Emons weist darauf hin, dass der Collagebegriff in der Musik unbefriedigend unscharf bleibe und prominente Vertreter der Neuen Musik diesen Begriff nur zögerlich verwenden würden.14

 

Für diesen Aufsatz sei festgehalten, dass die Collage als Produkt von heterogenem Fremden und Eigenen, mit Hilfe der Technik der Montage aneinandergefügt, verstanden wird, bei der es mit der "Begegnung einander wesensfremder Fundstücke nicht sein Bewenden hat, sondern (...) [die] meist auch noch einer oder mehreren übergeordneten Instanzen gehorcht, die über den Sinn des Rencontres entscheiden."15

 

 

Die Funktion von Zitat, Montage und Collage bei Gander

Wie bereits erwähnt, ist das Prinzip der Montage konstitutiv für die Kompositionstechnik Bernhard Ganders, die maßgeblich von den Möglichkeiten der elektronischen Musik16 geprägt ist. Bereits in Bezug auf sein frühes Werk Der Melonenbaum – nach der Vorlage eines Bildes von Georg Vinokic – weist Bernhard Gander darauf hin, dass es ihn besonders interessiere, heterogene Elemente zu einem homogenen Ganzen zusammenzuführen.17 Hingewiesen wurde außerdem auf seine Bemerkung, einzelne Klangverläufe innerhalb des Stücks (er bezog sich auf Der Melonenbaum, das Prinzip ist allerdings auf viele seiner Werke anwendbar) seien auswechselbar, was den Montagecharakter seiner Werke noch unterstreicht. Wenn nun darüber hinaus mitbedacht wird, dass der Begriff der Montage, wie Budde betont18, aus dem Bereich der Technik stammt, so ist es nur folgerichtig, dass Bernhard Gander die Sphäre des Technischen und Handwerklichen noch weiter in seine Kompositionen einbezieht, indem er beispielsweise Werkzeuge als Musikinstrumente einsetzt und – Peter Bürger beschreibt in seiner "Theorie der Avantgarde" das Montageverfahren als Grundprinzip der Avantgarde, da es das Kunstwerk als Artefakt zu erkennen gibt19 – das Produziertsein mittels zahlreicher Brüche und "roher" Klänge offenlegt.

 

Neben der Montage eigenen Tonmaterials setzt Bernhard Gander in vielen Werken auch auf die Montage von Zitaten oder den Einsatz von Collagen. Mit seiner Vorliebe für die Populärkultur verarbeitet der Komponist immer wieder tonales Material, wodurch "zwischen Zitat und  Umgebung ein nicht nur zeitlicher (...), sondern ein intern sprachlicher Unterschied"20 und – das ist im speziellen Fall hinzuzufügen – auch ein Unterschied im Genre besteht (Gander verwendet nicht selten Pop- und Rocksongs), was den Bruch des Fremden mit dem Eigenen noch verstärkt, so Gander das Zitat nicht so weit verfremdet, dass er eine Verschmelzung von Fremdem und Eigenem im Medium seiner eigenen Klangsprache schafft.

 

Verschmelzung musikalischer Welten I

In Melting Pot, für großes Orchester, zwei Rapgruppen, DJ, Slam-Poet, zwei Beat-Boxer und Breakdancer tritt der Aspekt der Montage alleine schon der Besetzung wegen klar zu Tage. Das Zusammenführen zweier Gruppen von MusikerInnen und PerformerInnen aus verschiedenen musikalischen Sphären muss alleine schon der Zusammensetzung wegen Montage genannt werden. Hier prallen zwei Gruppen unterschiedlicher Traditionen, Genres und Musiksprachen aufeinander. Beider Sphären Idiome nähern sich im Stück zwar so weit aneinander an, dass ein homogenes Werk entstehen kann, bleiben jedoch auch so weit selbstständig, dass sie sich klar voneinander abheben. So macht Bernhard Gander vor allem im Bereich des Metrums und der Rhythmik "Zugeständnisse", während Rapper et. al. weitgehend auf ihre (üblicherweise tonale) Klangsprache verzichten (vgl. zB T. 7ff, wo Gander in einem 4/4 Takt einen durchgehenden Viertelbeat in der Basspauke vorschreibt und gleichzeitig einen aus Tritonus und Quint aufgebauten Dreiklang in den Violinen parallel verschiebt).

 

 

Der Orchesterpart in Melting Pot ist Bernhard Gander "pur", während die montierten Nummern gemeinsam mit DJ, Rappern, Beatboxern, Breakdancern und Slam-Poet erarbeitet wurden.21 Hier ist also nicht von Zitaten, sehr wohl jedoch von montiertem Fremdmaterial in der Hinsicht zu sprechen, dass es sich bei diesen Stellen um Musik eines anderen Genres handelt. In der Regel hinterlegt dabei der Komponist Beatbox-Rhythmen, Rap und dergleichen mit seiner eigenen Musik, integriert das fremde Material also bis zu einem gewissen Grad in das Werk, ohne jedoch den Bruch zwischen beiden Bereichen zu stark weichzuzeichnen: Das "Fremde" ist auf Grund seines unterschiedlichen Idioms im Kontext des Werkes auch ohne große Vorbildung klar als Solches zu erkennen. Noch eindeutiger wird der Bruch an einer Stelle im Werk (T. 743 ff.), wenn Bernhard Gander der Rapperin Esrap die Zeit gibt, einen bereits bestehenden Song (Ausländer mit Vergnügen) wiederzugeben. Das Orchester hat an dieser Stelle die Anweisung "TACET, ca. 2 min." Es ist hier die größtmögliche Dissimilation des Zitats vom Text, in das es montiert ist, erkennbar.

 

Scarlatti I, oder: Das Zitat des Zitats des Zitats

Bunny Games, für Ensemble entstand 2006 im Rahmen des Erste Bank-Kompositionspreises als Auftragswerk für das Klangforum Wien. Bereits in seinem Werkkommentar   macht Bernhard Gander die Montage zum Programm, indem er Begriffe aneinanderreiht, die in mehr oder weniger starkem Zusammenhang mit den einzelnen Teilen des Werks stehen. "15 kurze stücke über verführung abschied nähe weinen 90-63-92 kotzen schöne worte schnelle autos playmate scarlatti flirten flüstern tanzen achterbahn verzweiflung teure uhren schreien parfum porno bahnhof playboy distanz nothing really matters kommen covergirl varése after midnight sprechen unaussprechliches hasen mit langen ohren."22

 

In Nummer 3 der 15-teiligen Komposition zitiert Gander die Sonate K.357 von Domenico Scarlatti – abgesehen von vier kurzen Auslassungen (Takte 95 bis 99, 105 bis 107, 118 bis 121 und 128 bis 131) – wörtlich. Eine Verfremdung stellt sich hierbei lediglich durch die Instrumentierung ein, da der Komponist ein Keyboard mit Cembalosound vorschreibt und solcherart eine Distanz zum historischen Original herstellt.23 Dieses wörtliche Zitat konfrontiert der Komponist nun mit einem weiteren Zitat von Scarlatti (Terzlauf aus der Sonate K.348) und rhythmischen sowie melodischen Versatzstücken aus K.357, die er – in unterschiedlichen musikalischen Parametern verfremdet – variabel kombiniert. Ab Takt 67 konfrontiert Gander K.357 vorerst mit der Terzfigur aus K.348, die er in Flöte, Klarinette, Violine, Bratsche 1 (hier mit der Anweisung alle Noten einen ¼ Ton tiefer zu spielen) und Bratsche 2 – jeweils um einen halben Takt verschoben – in unterschiedlichen Tonarten spielen lässt (im weiteren Verlauf ändert er auch die Rhythmisierung). In den Streichern gibt er als zusätzliche klangliche Verfremdung die Anweisung, während des Laufs von ord. nach sul. pont. zu wechseln. Die verzerrte E-Gitarre antizipiert derweil den dreifach wiederholten F-Dur Dreiklang aus K.357 mittels eines gehaltenen F-Dur Akkords, um wenig später den Rhythmus derselben Figur zu übernehmen.

Während also das Zitat aus der Sonate K.357 sich auf Grund seiner Länge und seiner beinahe wörtlichen Wiedergabe den HörerInnen klar als solches ausweist, ist beim Zitat aus K.348 mit seiner Verfremdung in allen musikalischen Parametern von einem verdeckten Zitat zu sprechen. Gander stellt hier die beiden Extreme des Zitierens, die Dissimilation und Assimilation einander gegenüber.

Er treibt das Spiel mit dem Zitieren allerdings noch viel weiter. Takt 685 von Melting Pot (es handelt sich um Nummer 9) beginnt mit einer pendelnden Terzbewegung in den Hörnern, zu der sich nach und nach (kanonisch verschoben) aufwärtsgerichtete Terzbewegungen im Fagott, den Klarinetten und den Trompeten hinzugesellen. Bei den aufwärtsgerichteten Sechzehntelläufen handelt es sich um das Zitat des Zitats, da Gander hier seine eigene Verarbeitung von Scarlatti aus Bunny Games zitiert. Doch damit nicht genug zitiert der Komponist die gesamte Stelle (inkl. der pendelnden Terzbewegung in den Hörnern) – abgesehen von kleinen Änderungen in der  Instrumentierung – wörtlich in seinem Orchesterwerk dirty angel (vgl. T.116 ff.). Durch das Zitat des Zitats des Zitats ist nun das Fremdmaterial endgültig seines ursprünglichen Kontextes enthoben und für die HörerInnen als solches nicht mehr erkennbar.

 

Verschmelzung musikalischer Welten II

In Nummer 12 von Bunny Games findet eine weitere Zusammenführung zweier Genres statt, indem Bernhard Gander hier die Musik von Edgar Varèse, den er in Interviews immer wieder als besonders wichtig für seine musikalische Entwicklung angibt, mit einem Popsong von Madonna montiert.24 Ganders Komposition startet mit einer Arpeggiofigur in der Klarinette, die ein direktes Zitat aus Varèses Intégrales darstellt. Er führt dieses Zitat jedoch nicht weiter, sondern entwickelt aus dieser Keimzelle durch Erweitung des Tonmaterials und unterschiedliche Rhythmisierung weitere musikalische Figuren. Ausgehend vom Zitat Varèses in der Klarinette führt die Flöte einen Takt später ebenfalls eine Arpeggio-Figur aus, die über verschiedene Schritte der Transformation und Variation in den eröffnenden c-Moll Sechzehntellauf aus Hung up von Madonna mündet. Aufgrund seiner Notation als Vorschlag ist diese Figur jedoch kaum als c-Moll Figur wahrnehmbar. Vielmehr erscheint die Flötenfigur als logische Fortsetzung jener in der Klarinette.

 

 

Scarlatti II, oder: die Collage als narrative Struktur

Wie bereits gezeigt wurde, findet Scarlattis Musik auf verschiedene Arten des Zitierens Eingang in Kompositionen Bernhard Ganders: von der wörtlichen Übernahme über die Verfremdung durch Veränderung musikalischer Parameter bis zum Zitat des Zitats. Eine weitere Technik sei an dieser Stelle hinzugefügt.

 

Orpheus Akte II ist ein Werk, das (ursprünglich für Bratsche und Klavier mit Ensemble komponiert) Bernhard Gander für Bratsche, Klavier und Zuspiel-CD bearbeitet hat. Die Zuspiel-CD enthält eine Collage aus elektronischen Sounds, verfremdeten Geräuschen – sowohl aus der Natur als auch aus der Technik – und mehr oder weniger stark verfremdeten Musikstücken. Dabei übernimmt die Collage die Funktion der narrativen Basis, auf deren Grundlage Bratsche und Klavier Orpheus und Eurydike darstellen. Dass Gander die Erzählung wichtig ist, beweist schon sein Eingriff in den Schluss, dem er (mit einem Augenzwinkern, man lese seine Werkeinführung25) à la Hollywood ein Happy End verpasst. Die beiden Soloinstrumente sollen an dieser Stelle nicht weiter analysiert werden, das Augenmerk soll vielmehr auf der Zuspiel-CD liegen, auf der Gander assoziativ an der Handlung orientiert Songs, Ausschnitte einer Scarlatti-Sonate (wieder K.348) und Geräusche innerhalb von fünf Tracks zu einer Collage verdichtet. Die Fahrt auf dem Schwarzen Meer illustriert Gander gleich zu Beginn des Stückes mit Nenas Hit Irgendwann, irgendwo, zu Beginn noch so weit verfremdet, dass lediglich dumpf ein Technobeat ("Das Schlagen der Ruder"26) vernehmbar ist, bis Gander für etwa 2 Sekunden die Melodie der Textzeile "(...) fliegen Motten in das Licht (...)" hervorblitzen lässt. Der zweite Track beinhaltet mit Those about to rock von ACDC den auf seinen anfänglichen Gitarrenriff reduzierten Ausschnitt eines Songs, der mit der Zeile "For those about to rock, we salute you" bereits eine Anspielung auf den folgenden Gesang der Sirenen (Gander verwendet dafür eine Aufnahme von Bratschenglissandi aus der Originalfassung der Orpheus Akte), dessen Orpheus sich mit seinen musikalischen Künsten zu erwehren weiß. Die hervorragende Musikalität des großen Sängers und Dichters Orpheus deutet der Komponist mit dem bereits bekannten Terzlauf aus der Sonate K.348 von Domenico Scarlatti an. Auch in Track 4 (der Kampf in der Unterwelt wird mit Kung Fu Geräuschen und einem gemorphten Cembalo dargestellt) und Track 5 (Orpheus überzeugt die Herrscher der Unterwelt mit seinem hervorragenden Spiel) setzt Gander den Ausschnitt noch einmal ein, wobei er ihn je verschieden kombiniert, übereinanderschichtet und elektronisch verfremdet.

 

 

Abschließende Bemerkungen

Die analysierten Werkausschnitte sollten einen kleinen Überblick über den Einsatz von Montage, Zitat und Collage vor allem im Zusammenhang mit tonalen Stellen bei Bernhard Gander geben. Während die Montage als konstitutives Merkmal der Kompositionstechnik Ganders genannt werden muss, nimmt auch das Zitat in all seinen Ausformungen einen zentralen Bestandteil in Ganders bisherigem Schaffen ein. Dabei lotet er die gesamte Bandbreite möglichen Zitierens – von der Integration (durch Verfremdung oder Zitieren eines Zitats) des Fremdmaterials bis zur Desintegration (durch wörtliche Wiedergabe, im äußersten Fall durch ein anderes Medium) aus, wobei er auch zwischen verschiedenen Stadien der Integration des Fremdmaterials (durch unterschiedliche Grade der Verfremdung) unterscheidet. Die Collage verwendet er (im Übrigen auch in Mr. Vertigo, für 2 Bassetthörner und Tape) als narrative Grundlage, indem er assoziativ Geräusche und Musik aneinander montiert. Tonalität spielt dabei insofern eine Rolle als sie ein Zitat durch seine unterschiedliche Sprache deutlicher als solches erkenntlich macht. In der Montage von Musik nicht nur unterschiedlicher Epochen, sondern auch unterschiedlicher Genres spiegelt sich wiederum das Musikverständnis Ganders, der keine Berührungsängste mit U-Musik kennt, sondern deren Konnotationen bewusst für die Aussage seiner Werke einsetzt, wider.

 

 

Literatur:

Elmar Budde: Zitat, Collage, Montage, in: Rudolph Stephan (Hg.): Die Musik der sechziger Jahre, Mainz 1972.

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974.

Hans Emons: Montage – Collage – Musik,  Berlin 2009.

Daniel Ender: Bernhard Gander – "Bunny Games". Kompositionsauftrag 2006, in: Daniel Ender: Der Wert des Schöpferischen. Der Erste Bank Kompositionsauftrag 1989–2007. 18 Porträtskizzen und ein Essay, Wien 2007.

Lothar Knessl: Lange Ohren machen. Die Energiespiele des Bernhard Gander, in: Berno Odo

Zofia Lissa: Musikalisches Geschichtsbewußtsein – Segen oder Fluch?, in: Neue Aufsätze zur Musikästhetik, Wilhelmshaven 1975

Axel Petri: "Ich bin ja nicht der Gegner des Publikums!". Annäherung an den Komponisten Bernhard Gander in sieben Schritten, Berno Odo Polzer (Hg): Katalog Wien Modern Saarbrücken 2009.

Axel Petri: Ein Comicheld als Klavierstück, in: Die Tonkunst, Oktober 2009.

Axel Petri-Preis: Art. Bernhard Gander, in: Komponisten der Gegenwart, 45. Nachlieferung, Oktober 2011.

Brunhilde Sonntag: Untersuchungen zur Collagetechnik in der Musik des 20. Jahrhunderts, Regensburg 1977.

Viktor Zmegac: Montage/Collage. In: Viktor Zmegac, Dieter Borchmeyer (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Tübingen 1994, Seite 286 – 291.

 

Interviews

"Das geht mir auf den Sack, ich mach irgendwas anderes". Bernhard Gander im Gespräch, Berno Odo Polzer (Hg): Katalog Wien Modern Saarbrücken 2009.

Bernhard Gander im Gespräch mit Heinz Rögl, in: http://www.musicaustria.at/musicaustria/neue-musik/interview-mit-bernhard-gander, letzter Zugriff: 16.12.2011.

Bernhard Gander im Gespräch mit Axel Petri, 17.6.2009. (unveröffentlicht)

Bernhard Gander im Gespräch mit Axel Petri-Preis, 28.1.2005. (unveröffentlicht)

 

 

Websites

https://www.edition-peters.de/cms/deutsch/general/produkt.html?product_id=PLM07368 (letzter Zugriff: 18.12.2011).

https://www.edition-peters.de/cms/deutsch/general/produkt.html?product_id=PLM06877&= (letzter Zugriff: 18.12.2011).

 



  1. vgl. Daniel Ender: Bernhard Gander – "Bunny Games". Kompositionsauftrag 2006, in: Daniel Ender: Der Wert des Schöpferischen. Der Erste Bank Kompositionsauftrag 1989–2007. 18 Porträtskizzen und ein Essay, Wien 2007,  Seite 39 oder auch Axel Petri: Ein Comicheld als Klavierstück, in: Die Tonkunst, Oktober 2009, Seite 499.
  2. Vgl.: Bernhard Gander im Gespräch mit Axel Petri, 17.6.2009 und "Das geht mir auf den Sack, ich mach irgendwas anderes", in:  Berno Odo Polzer (Hg): Katalog Wien Modern Saarbrücken 2009.
  3. Bernhard Gander im Gespräch mit Axel Petri-Preis, 28.1.2005.
  4. Elmar Budde: Zitat, Collage, Montage, in: Rudolph Stephan (Hg.): Die Musik der sechziger Jahre, Mainz 1972, Seite 26.
  5. Hans Emons: Montage – Collage – Musik,  Berlin 2009, Seite 28.
  6. Brunhilde Sonntag: Untersuchungen zur Collagetechnik in der Musik des 20. Jahrhunderts, Regensburg 1977, Seite 14.
  7. Vgl.: ebda.
  8. Vgl.: Hans Emons: Montage – Collage – Musik,  Berlin 2009, Seite 28.
  9. Zofia Lissa: Musikalisches Geschichtsbewußtsein – Segen oder Fluch?, in: Neue Aufsätze zur Musikästhetik, Wilhelmshaven 1975, Seite 161.
  10. Vgl.: Viktor Zmegac: Montage/Collage. In: Viktor Zmegac, Dieter Borchmeyer (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Tübingen 1994, Seite 286 – 291.
  11. Hans Emons: Montage – Collage – Musik,  Berlin 2009, Seiten 19 und 165.
  12. Vgl.: Viktor Zmegac: Montage/Collage. In: Viktor Zmegac, Dieter Borchmeyer (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Tübingen 1994, Seite 286 – 291.
  13. Elmar Budde: Zitat, Collage, Montage, in: Rudolph Stephan (Hg.): Die Musik der sechziger Jahre, Mainz 1972, Seite 27.
  14. ebda., Seite 43.
  15. ebda., Seite 168.
  16. Vgl. hierzu Axel Petri-Preis: Art. Bernhard Gander, in: Komponisten der Gegenwart.
  17. Vgl.: Axel Petri-Preis: Das Verhältnis von Musik und bildender Kunst, Saarbrücken 2010, Seite 64 f.
  18. Elmar Budde: Zitat, Collage, Montage, in: Rudolph Stephan (Hg.): Die Musik der sechziger Jahre, Mainz 1972, Seite 27.
  19. Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974.
  20. Vgl.: Elmar Budde: Zitat, Collage, Montage, in: Rudolph Stephan (Hg.): Die Musik der sechziger Jahre, Mainz 1972, Seite 29.
  21. Vgl. dazu auch das Making of unter: http://www.youtube.com/watch?v=czu-Yty6qV8 (letzter Zugriff: 14.12.2011).
  22. https://www.edition-peters.de/cms/deutsch/general/produkt.html?product_id=PLM06877&= (letzter Zugriff: 18.12.2011).
  23. Bernhard Gander, der mehrfach betont hat, eine Vorliebe für "billige Effekte"und "Müllgeräusche" zu haben merkt in einem Interview an, das Instrument der UA hätte ruhig billiger sein können. Vgl. "Das geht mir auf den Sack, ich mach irgendwas anderes". Bernhard Gander im Gespräch, Berno Odo Polzer (Hg): Katalog Wien Modern Saarbrücken 2009.
  24. vgl. hierzu auch: Daniel Ender: Bernhard Gander – "Bunny Games". Kompositionsauftrag 2006, in: Daniel Ender: Der Wert des Schöpferischen. Der Erste Bank Kompositionsauftrag 1989–2007. 18 Porträtskizzen und ein Essay, Wien 2007.
  25. https://www.edition-peters.de/cms/deutsch/general/produkt.html?product_id=PLM07368 (letzter Zugriff: 18.12.2011).
  26. Bernhard Gander im Gespräch mit Axel Petri-Preis, 17.6.2009.