Vermittlung Magazin

Tonalität als Tabu?

STATEMENT
Katharina Klement

Studien Klavier und Komposition, sowie Lehrgang für elektroakustische und experimentelle Musik an der Hochschule für Musik und darst. Kunst in Wien. Gastkurs "music technology" an der University of York, U.K. Private Studien in Plastik/Skulptur und Tanzimprovisation. Lehrauftrag am Lehrgang  "Computermusik und Elektronische Medien" an der Universität für Musik und Darst. Kunst Wien.

www.katharinaklement.com

Warum diese Frage an mich? Will man wissen, warum ich keine Dreiklänge schreibe? Will man wissen, ob es so etwas wie eine Doktrin für zeitgenössisches Komponieren gibt?

 

Dass die europäische Musik die Dur-Moll-Tonalität hervorgebracht hat, viele Entwicklungsstadien inklusive ihrer Auflösung in die freie Tonalität durchschritten hat, ist längst Musikgeschichte, eine gegessene Sache. Aber ist sie auch eine bereits verdaute?

 

Haben sich die Begriffe (a)tonal und Tonalität am Beginn des 21. Jahrhunderts weiter verändert, was bedeuten sie heute? Bereits Arnold Schönberg machte darauf aufmerksam, dass es atonale Musik gar nicht geben könne, da jede Musik aus Tönen besteht, aus ihnen gebaut ist. Die Angriffe und Unverständnisse zur atonalen Musik bezogen sich ja auf den neuen Zusammenhang der Töne, den Zusammenhang ohne Schwerpunkte von Grundtönen, ein gravitationsfreies Feld sozusagen.

 

Nun haben sich Töne physikalisch ja längst in Wellenlängen, grains, samples etc. zerstäubt und ästhetisch zu Klangereignissen, Texturen, Clustern oder Aggregaten vielfältiger Art gewandelt. Klang als Phänomen, das entweder Zustand oder Prozess ist, um eine Definition von Helmut Lachenmann zu nennen. Ganz wesentlich bricht die Elektronik das vermeintliche Atom des Tons auf, bereits vorweggenommen von Köpfen wie Edgar Varèse. Sein Stück Ionisation für 41 Schlaginstrumente und 2 Sirenen folgt der Idee des subatomaren Vorgangs der "Ionisierung" eines Sterns. Das Geräusch kehrt hier und allerorten vehement in die Musik ein. Nicht nur als Randerscheinung beim Ankratzen eines Violintons sondern Knattern, Donnern, Ächzen, Stöhnen... werden in das musikalische Register des 20. Jhdts aufgenommen. Mit der Möglichkeit der elektroakustischen Aufnahme und Wiedergabe wird schlicht jeder Klang und jedes Geräusch zum potentiellen musikalischen tonalen Material. Tabus wurden damit gesprengt und gleichzeitig neue ins Leben gerufen. Das gewonnene Klangmaterial wurde untersucht und klassifiziert, die Grenzen zwischen konkret und abstrakt neu gezogen. Die Transformation dieses Klangmaterials wird zunehmend kompositorische Herausforderung, führt seit den 1950ern in immer neue ungeahnte Gebiete, die den traditionellen Begriff der Dur-Moll-Tonalität weit hinter sich lassen (müssen).

 

Auch die Idee der Klangfarbenmelodie bekommt nicht zuletzt mit den Mitteln der elektronischen Klangsynthese und –analyse ein Werkzeug zur plastischen bzw. skulpturalen Formung  von klanglichem Spektrum, welches den Begriff der Tonalität noch einmal ins mikrotonal Unendliche verweist.

 

Das Gesetz der Obertonreihe gilt damals wie heute, die Konstante der Zahlen bleibt. Aber vielleicht klettern wir im 21. Jhdt. etwas höher in den Brechungen oder lassen auch die "ausgesperrten" / tabuisierten Obertöne wie z.B. 7, 11, 13 des temperierten Systems herein?

 

Tabu setzt Begrenzung bzw. Norm voraus. Das genormte, traditionelle tonale Material im europäischen und amerikanischen Kulturraum ist am Anfang des 21. Jh.s immer noch die überkommene gleichmässig temperierte Stimmung samt ihren Dur-moll-Bezügen.  In der Popkultur eher ein Tabu, sie nicht zu verwenden. Besteht hier ein Graben, die Trennung zwischen Popkultur und Neuer Musik? Manche Brücken, Verbindungen werden durch das Remixing und Zitieren da wie dort geschlagen.

 

Dur-Moll-Tonalität steht allen zur Verfügung, kann als "Register" des heute zur Verfügung stehenden musikgrammatikalischen Materials gezogen werden, ebenso wie beispielsweise die Register "noise" oder "seriell" oder "konkret" oder "mikrotonal". Manche Register haben noch keinen Namen, weisen in ein noch uneingezäuntes Gebiet.

 

Tonale Bezüge herzustellen ist Komposition an sich. Abseits der abgesteckten Wege, der beschrifteten Register wird man allemal in Räume mit neu geordneten / noch unbekannten / erweiterten klanglichen Bezügen katapultiert.