Vermittlung Magazin

Olga Neuwirth, Georg Friedrich Haas und die 2. Wiener Schule

Erfühlt, verkörpert und musiziert von Schülern und Musikschülern in Warschau

BEST PRACTICE
Constanze Wimmer & Dagmar Schinnerl

Constanze Wimmer ist Leiterin des postgradualen Masterstudiengangs »Musikvermittlung – Musik im Kontext« an der Anton Bruckner Privatuniversität.

Dagmar Schinnerl ist Klavierpädagogin und Musikvermittlerin. Großes Interesse für die Schnittstelle zwischen Musikpädagogik und -therapie.

"Wenn’s um eine Fuge geht, würden wir mit einer Fuge in der Mauer anfangen … Es geht um hier und jetzt. Und was die Kids so bewegt", meint Matthias Kaul, dessen bereits seit Jahren bewährte Kompositionsseminare mit Kindern und Jugendlichen nun endlich die mediale Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Im kleinen Städtchen Winsen an der Luhe, südlich von Hamburg, arbeitet einer der derzeit besten Percussionisten der Neuen Musik an den Ideen von Jugendlichen, um deren Leben durch Kunst zu bereichern. Hätten er und seine jungen Komponisten und Komponistinnen nicht gerade den Preis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen und damit einen Bericht in der "Zeit" (15.3.2012) wüssten davon auch heute nur die "happy few", die sich mit Vermittlung von zeitgenössischer Musik befassen.

 

Österreichische Musik der Gegenwart für polnische Schüler und Musikschüler vermitteln

Krzysztof Kwiatkowski, einer dieser "happy few" ist Verleger und Redakteur für zeitgenössische Musik in Polen und bereits seit Jahren aktiv in der Vermittlung Neuer Musik. Im Rahmen seiner journalistischen und veranstaltenden Tätigkeiten knüpft er Netze und Kooperationen zwischen Ensembles, Komponisten und jungen Menschen. Gemeinsam mit dem Österreichischen Kulturforum Warschau/Austriackie Forum Kultury entwickelte er nun eine Konzert- und Workshopreihe, die 10 bis 18-Jährigen (Musikschülern und Schülern) die Klangwelten österreichischer Musik von der 2. Wiener Schule über Olga Neuwirth zu Georg Friedrich Haas erschließen soll. Die kreative Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik abseits des schulisch vermittelten – meist ausschließlich theoretischen – Wissens sieht Kwiatkowski als große Chance für Jugendliche: „We believe that creative activities around the music is much superior to the handbook knowledge that is being taught at schools.“ Projekte wie diese sollen den Teilnehmenden ermöglichen, zeitgenössische Werke kennen zu lernen, differenziert wahrzunehmen und einen individuellen Zugang dazu zu finden. Für die inhaltliche Ausgestaltung der musikvermittelnden Workshops suchte er die Zusammenarbeit mit uns.

 

Was könnte Jugendliche aus Warschau an Musik der 2. Wiener Schule interessieren? Konkret an den frühen expressionistischen Werken Sechs kleine Klavierstücke op. 19 von Arnold Schönberg, Vier Stücke op. 5 für Klarinette und Klavier von Alban Berg und Vier Stücke op. 7 für Violine und Klavier von Anton von Webern. Diese Stücke sollten als Konzert, interpretiert von Profis und Musikschülern, am Ende von 3 Workshop-Tagen im Jänner 2012 stehen.

Wir entschieden uns für einen multidimensionalen Ansatz, weil wir davon ausgingen, dass einerseits nicht alle Workshop-Teilnehmer bereits musikalische Vorerfahrungen in die Arbeit einbringen konnten, andererseits jeder Jugendliche ganz unterschiedliche Wahrnehmungsweisen vorzieht und wir diesen Unterschieden im Zugang gerecht werden wollten.

Im Zentrum stand der musikalische Expressionismus, den wir allerdings erst am letzten Workshop-Tag als Stil des frühen 20. Jahrhunderts benannten. Stattdessen führten wir die Jugendlichen zunächst auf eine Reise zu ihren eigenen Innenwelten – eine erste gemeinsame Komposition aus Alltagsgeräuschen entstand, die anschließend die "Filmmusik" zu einem einminütigen Film aus dem Jahr 1906 (eine Tramway-Fahrt entlang des Wiener Rings) bildete. Diese erste spontane Gestaltungsarbeit sollte die Brücke zu Wien und zu einer Zeit schlagen, die bereits über 100 Jahre vergangen und in der Auseinandersetzung mit ihr gleichzeitig gegenwärtig sein kann.

Wir kontextualisierten Wien um 1900 als Zeit im Umbruch und suchten nach Analogien in der Sehnsucht nach dem Wesentlichen und der Essenz als Antwort auf vorangegangene Opulenz und Überschwang in Architektur, Mode, Design, Malerei und Musik. Ein Zitat von Arnold Schönberg half uns dabei, diesen Wunsch in den Worten eines Komponisten auszudrücken: „Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich … kurz zu fassen. Jeder Blick lässt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt!“ Anregungen aus Bildern von Wassily Kandinsky führten uns dazu, die Schüler zum Malen von Skizzen ihrer eigenen starken, aber reduzierten Gefühlen zu ermutigen.

Im zweiten Teil stand musikalisches Material aus den Kompositionen von Schönberg und Webern als "Werkzeug" zur Verfügung. Hier fanden sich Anregungen wie "Produziere einen sehr scharfen Klang in Zeitlupe: mit Orff-Instrumentarium, deiner Stimme oder deinem Körper!" für die Nicht-Musiker unter den Schülern oder kurze Notenausschnitte aus den Werken der beiden Komponisten für die Musikschüler, um sie neu zu gruppieren und zu interpretieren. In Gruppen produzierten die Jugendlichen auf diese Weise kurze Kompositionen, die unterschiedliche Emotionen zum Ausdruck brachten und wiederum dem Filmausschnitt aus Wien um 1906 als Live-Musik zugrunde gelegt wurden.

Der dritte und abschließende Workshop-Teil lüftete das Geheimnis um den Expressionismus in der Musik und führte die Gefühls-Erfahrungen der Jugendlichen beim Malen und im Musizieren mit pantomimischen Formen des Ausdrucks zur Musik von Alban Berg zusammen.

Wichtig war uns, dass nach jedem künstlerischen Tun eine gemeinsame Reflexions-Phase das Erlebnis abschloss und damit individuelle Erfahrungen auf einer kollektiven Ebene benennbar und ästhetische Wahrnehmungen für die Schüler persönlich und andere mitteilbar machte.

Das Konzert mit den Werken der 2. Wiener Schule beendete den ersten Baustein dieser Konzert- und Workshopreihe.

 

"Wann wird das nächste Projekt stattfinden?" Begeistert strahlt Gabriela nach diesem Konzert, das die dreißig Jugendlichen gemeinsam mit Profimusikern im Saal des österreichischen Kulturforums gestaltet haben.

 

"It changed my way of listening to the world!"

Ende März ist es dann soweit: erneut steht Musik aus Österreich, diesmal von Olga Neuwirth im Mittelpunkt einer dreitägigen Workshop-Reihe mit anschließendem Konzert. Auch die dreizehnjährige Gabriela ist wieder dabei. Ein paar der Teilnehmenden haben wie sie die Workshops zur 2. Wiener Schule im Jänner miterlebt, das Konzert mitgestaltet. Manche der Jugendlichen sind heute zum ersten Mal dabei.

Aus den Räumlichkeiten der Musikgrundschule "Grażyna Bacewicz" – benannt nach der polnischen Komponistin – klingen musikalische Elemente aus "Canon of Funny Phases" und "Spleen". Die Teilnehmenden improvisieren und komponieren und versuchen dabei, ihren Instrumenten bis dahin unerforschte Klänge zu entlocken. Die Geigerin Anna Kwiatkowska spornt die Jugendlichen noch weiter an, indem sie ihnen Spieltechniken aus Neuwirths Werken demonstriert, erklärt und sie probieren lässt. Sławomir Wojciechowski kann ihnen die Herangehensweise als Komponist authentisch vermitteln. Doch nicht nur Spieltechniken und ungewöhnliche Klänge spielen in diesen Tagen eine Rolle, auch die Entwicklung von Musikvideos wird anhand verschiedener Beispiele thematisiert. Eine Gruppe von Schülerinnen produziert schließlich gemeinsam mit der Filmregisseurin und Fotografin Agnieszka Kokowska ein Video zur Musik von "Spleen".

 

Auf die drei zweistündigen Workshops von Montag bis Mittwoch folgt die 70-minütige Abschlussveranstaltung am Donnerstag um 18 Uhr. Noch etwas unsicher aber sichtlich stolz präsentieren die Jugendlichen ihre Workshopergebnisse. Gespannt lauschen sie den Werken, die von den Profimusikern vorgetragen werden. Beim einen oder anderen Klangeffekt huscht ein amüsiertes Schmunzeln über die Gesichter. Ein erfüllendes, abwechslungsreiches Konzert inklusive Musik, Video, Poesie sowie einer anschaulichen Darstellung von "Quasaren" und "Pulsaren" durch einen Astronomen geht zu Ende.

 

In der Auseinandersetzung mit Olga Neuwirths Werken geht es uns bei diesem Konzept darum, Neuwirths Vorliebe für das Groteske hervorzuheben und die Jugendlichen zu ermuntern, ihren eigenen schaurigen Gefühlen nachzuspüren und diese auszudrücken. Sie werden dabei zum Phänomen einer aus dem Moment heraus gültigen musikalischen Aussage geführt, oft labyrinthisch versteckt und aus einem grimmigen Humor heraus getroffen.

Anfangs noch etwas ungewohnt, finden die Jugendlichen zusehends Gefallen am schaurig-spaßigen Selbstausdruck. Dieser Prozess spiegelt sich in Gabrielas Worten wider: "Ich war schockiert über die ganzen Gefühle, die die Musik bietet – und ich mag sie."

Neuwirths Musik wird im Laufe der Workshops als immer selbstverständlicher wahrgenommen, die Sensibilität für die nuancenreichen Werke steigt zusehends: "Am Anfang dachte ich, dass das nicht wirklich Musik oder Kunst ist. Aber schon nach dem ersten Workshop begann ich die Musik zu mögen. Olga Neuwirths Musik ist wirklich modern und ‚wirklich‘ Musik. Wenn ich jetzt durch die Straßen gehe, hör ich plötzlich so vieles: Plastik, das über den Boden huscht, die unterschiedlichen Geräusche beim Öffnen von Eingangstüren…"

 

Frau Brzoza, Programmredakteurin und Verantwortliche für den Musikbereich im österreichischen Kulturforum Warschau, blickt positiv auf den gelungenen Abend und die vorangegangenen Workshops zurück. Dieses Projekt bündelt ihrer Meinung nach zwei wesentliche Ziele des Kulturforums: junge Menschen anzusprechen und zu fördern, sowie zeitgenössische österreichische Musik zu vermitteln.

Die nächsten Ziele sind, „sowohl mehr Schulen für die Idee zu gewinnen, als auch Kulturinstitute anderer EU-Staaten, da sich bei größerer Beteiligung noch mehr machen ließe.“

 

Den Reigen der Auseinandersetzung mit österreichischer Musik der Gegenwart beschließt eine Workshopreihe zu Georg Friedrich Haas im Mai 2012.

 

Sound and Silence

Während der letzten 20 Jahre entwickelte sich in Europa das neue kulturelles Praxisfeld der Musikvermittlung rasant – es beschreibt einen kulturpädagogischen Ansatz, in dem Orchester, Ensembles und Konzerthäuser vielfältige Formen der Kommunikation mit ihrem – meist jungen – Publikum erproben: Inszenierte Konzertformate für Kinder, Workshopreihen mit Musikern oder Patenschaften mit Bildungseinrichtungen formulieren einen neuen Anspruch seitens der Kulturinstitutionen, Verantwortung für die musikalische Bildung von Kindern und Jugendlichen zu übernehmen und gemeinsam mit Schulen und Hochschulen an nachhaltigen kooperativen Strategien zu arbeiten.

 

Doch dieser Boom, der seither den gesamten Klassik-Sektor in Beschlag nimmt, hat seine Wurzeln bereits 10 Jahre früher. Auch wenn die Vermittlung Neuer Musik zugunsten großer Orchesterprojekte oder Outreach-Programme von Konzerthäusern in den Hintergrund tritt, stammen die Arbeitsweisen und Ideen in der Herangehensweise überwiegend aus der musikpädagogischen Arbeit der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die das aktive Komponieren der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum der Arbeit stellen wollten. Wesentlich war der Grundgedanke, dass der Akt des Komponierens im Klassenzimmer so selbstverständlich Platz greifen sollte, wie das Malen eines Bildes im Kunstunterricht. Vordenker für die Entwicklung von tragfähigen Modellen für die Kooperation von Komponisten, Lehrern und Kulturinstitutionen waren Peter Maxwell Davies als "composer-teacher" und John Paynter mit seinem die didaktische Diskussion anregenden Buch "Sound and Silence: Classroom Projects in Creative Music". Die Reform des englischen Musik-Curriculums wurde in den 90er Jahren auf vier Lernziele fokussiert: Hören, Verstehen, Musik machen und Komponieren.

 

Die Modelle erreichten Österreich, wo sie in einer ersten "Klangnetze"-Version mit dem Klangforum Wien und englischen Komponisten und Konzertpädagogen, u.a. Richard McNicol, auf Initiative des Wiener Konzerthauses Fuß fassten. In weiterer Folge erfuhren die „Klangnetze“ eine neue und eigenständige Schwerpunkt-Setzung: Das Team der Komponisten und Musikern, die mit Schülern und Lehrern gemeinsam an kompositorischen Aussagen arbeiteten, setzte sich nach der Startphase überwiegend aus Komponisten und Vertretern der elektronischen Musik und der Improvisationsszene zusammen. Dadurch entstand unter der Leitung des Musikpädagogen Hans Schneider, des Komponisten Burkhard Stangl und der Flötistin Cordula Bösze eine Suche nach Arbeitsweisen, die bei Kindern und Jugendlichen kompositorische Prozesse in Gang setzten, die nicht das Verständnis für Referenzwerke etablierter Komponistinnen und Komponisten wecken wollten, sondern Werke entstehen ließen, die aus sich selbst heraus wuchsen. Musikalisch-künstlerischen Prozessen verpflichtet, stand zwar ein Zeitrahmen (meist ca. 3 Monate) für die Durchführung des Projekts an einem Schulstandort zur Verfügung, im Verlauf der Arbeit blieb es jedoch so lang wie möglich offen, ob dabei ein Werk entstehen würde, das von den Teilnehmenden für eine öffentliche Aufführung geeignet erschien.

"Klangnetze" wurde als Pilotprojekt mit staatlichen Mitteln unterstützt und prägt auch nach dem Ende seiner Durchführungsphase Komponistinnen und Komponisten, die im Bereich der Musikvermittlung in Österreich tätig sind.

 

Neue Musik in der Ausbildung von Musikvermittlern

Seit 2009 gibt es einen postgradualen Lehrgang "Musikvermittlung – Musik im Kontext" an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Der Lehrgang arbeitet in der Auseinandersetzung mit Experten aus der Praxis, anhand von Literatur und Theorie zur Musikvermittlung und mittels eigener Projekte der Studierenden die Vielfalt der aktuellen österreichischen und internationalen Musikvermittlung heraus und stellt so einen Zusammenhang zwischen kultureller Bildung und gegenwärtigem Musikschaffen her: Musikvermittlung im Konzertleben, Audience Development und Aspekte des Kulturmanagements sind dabei Thema in Theorie und Praxis. Trainingsphasen zu Bühnenpräsenz, Moderation und Improvisation vertiefen die professionelle Arbeitsweise der Studierenden – die Auseinandersetzung mit Neuer Musik ist bei den Studierenden dabei ein zentrales Thema – und Komponistinnen wie Katharina Klement, die bei und mit den "Klangnetzen" erste Erfahrungen in der Vermittlung gemacht haben, helfen uns nun, diese Begeisterung an die nächste Generation weiterzugeben.