Vermittlung Magazin

Der Ausdruck sexueller Erregung durch Frauen in avantgardistischer Klangkunst 

ESSAY
Michaela Graf

2002-2008 Studium der Musikwissenschaft in Graz. Seit 2009 beim Musikverein für Steiermark (Büroleitung und Abonnementverwaltung).

Als "das Erotikon der Dauer"1 bezeichnet Otto Brusatti Musik, die über Epochen hinweg immer wieder mit Sexualität, Erregung, Emotion und Körperlichkeit in Verbindung gebracht wurde und wird. Dabei stellt sich in erster Linie die Frage, wie unterschiedliche Emotionen und Erregungen durch Musik hervorgerufen und mit welchen empirischen Methoden Emotionen gemessen werden können. Vor allem in avantgardistischer Klangkunst versuchen Frauen über provokatives Ausdrucksverhalten Sexualität darzustellen um ein über Jahrhunderte geprägtes und überzeichnetes Rollenbild der Frau zu überwinden.

 

I - Theoretische Ansätze zum Zusammenhang von Musik, Körperlichkeit und sexueller Erregung

 

Als Pionier und Begründer der experimentellen Psychologie beschäftigte sich Wilhelm Wundt mit der Theorie der Dimensionalität der Gefühle und entwickelte in seinen Forschungen die Intensitätskurve, die die Erregung eines Menschen, beispielsweise durch ein Musikstück, messen sollte.2


Mit dieser Intensitätskurve belegte Wundt, "dass in allen Sinnesgebieten vorzugsweise Empfindungen mässiger Stärke von Lustgefühl begleitet sind."3 Während Wundt mit seiner Forschung belegte, dass man durch Reize - in diesem Fall durch Musik - Erregung auslösen kann, beobachtete Daniel E. Berlyne in seinen Studien einen Zusammenhang zwischen Komplexität und hedonischem Empfinden. Der Mensch versucht ein optimales Aktivierungsniveau zu erreichen und dieses so lange wie möglich zu halten. Diesen Zusammenhang zwischen Komplexität und hedonischem Empfinden stellte er durch eine umgekehrt u-förmige Kurve dar. Ein mittlerer Grad an Aktivierung ist für das Individuum optimal. Jede Abweichung, wie etwa zu niedrige Aktivierung durch einfache Reize, oder zu hohe Aktivierung durch komplexe Reize, veranlasst den Menschen dazu, den optimalen Level wieder zu erreichen.4 Ist ein höchst mögliches, angenehmes Level an Erregung erreicht, so wird alles, was darüber hinausgeht, als zu komplex wahrgenommen und somit als Unlustgefühl eingestuft. Auf die musikalische Ebene umgedeutet würde das heißen: Je komplexer ein Musikstück ist, desto niedriger ist der Wohlgefallen.

Der Mensch als triebgesteuertes Wesen wird also von Lust und Unlust gelenkt und reagiert auf Spannungs- und Lösungszustände, wie sie laut Schenker auch in der Musik zum Ausdruck gebracht werden. "Man gewöhne sich endlich, den Tönen wie Kreaturen ins Auge zu sehen; man gewöhne sich, in ihnen biologische Triebe anzunehmen, wie sie den Lebewesen innewohnen. Haben wir doch schon hier vor uns eine Gleichung: In der Natur: Fortpflanzungstrieb – Wiederholung – individuelle Art; in der Tonwelt ganz so: Fortpflanzungstrieb – Wiederholung – individuelles Motiv."5 In der Musikgeschichte entwickelte sich eine musikalische Form, Spannung aufzubauen, diese zu halten und erst am Ende aufzulösen. So kann auch hier ein Zusammenhang von hedonischem Empfinden und Erregung aufgezeigt werden.

 

"Das Funktionieren von Musik ist in gewissem Sinne […] in körperlichen Vorgängen begründet."6 Musik kann ohne den menschlichen Körper nicht stattfinden und ist ohne diesen auch nicht wahrnehmbar. Susan McClary ist der Meinung, dass Musik selbst keinen Sinn in sich trägt7, sondern von einem sozialen Sinn abhängig ist, der ihr weitgehend durch kulturell und emotional überformtes Ausdrucksverhalten indiziert wird. Auch John Blacking geht in seiner Theorie davon aus, dass Musik auf sozialen Fakten beruht und die Reaktion auf Musik von der kulturellen Zugehörigkeit der Menschen abhängig ist8. Musik wird auditiv aufgenommen, körperlich ausgedrückt, mit sozialen Prozessen verbunden und wiedergegeben. Jedoch kam es im Laufe der Zeit zu einem "Verschweigen der Körperlichkeit"9 welche Musik auf eine vorwiegend geistige Ebene stellte. So entwickelte sich über Jahrhunderte hinweg durch kulturell überformtes Ausrucksverhalten eine hochkulturelle, ernste Musik, die komplexe Notationssysteme und Musiktheorien erfordert und so zu einem rationalen, zerebralen Erlebnis wird.10

 

Nicht nur der Zusammenhang von Musik und Körper ist bei der hier vorliegenden Thematik von großer Bedeutung, sondern auch die emotionale Komponente spielt eine wesentliche Rolle beim Ausdruck sexueller Erregung in und durch Musik. Klang kann nicht grundlos erregend oder entspannend wirken. Neben dem kulturell sozialen Aspekt spielen auch Emotionen eine große Rolle bei der Empfindung und Wahrnehmung von Musik. Der Klang als emotionsbegleiteter Laut11 ist untrennbar mit kognitiven Prozessen verbunden. Somit kann Musik stark oder schwach emotional besetzt sein. Manfred Clynes machte durch seine Forschungen im Bereich der "Sentik"12 Gefühle mit dem Sentographen messbar13. Verschiedene Emotionen wurden von den Versuchspersonen mit ähnlichen sentischen Formen dargestellt. Die sentische Form von Sexualität ist in folgender Abbildung ersichtlich.

 

Durch die "Tonhöhe, Tonstärke, Tonfarbe, Tondauer und das Fortschreiten der Harmonie"14 sowie des Rhythmus eines Musikstücks können unterschiedliche Emotionen hervorgerufen werden. Je nach Situation wird ein Musikstück von einem Menschen mehr oder weniger stark emotional besetzt und kann bei einem erneuten Hörerlebnis wieder ähnliche Emotionen auslösen.


II - Zurück zur Sexualität, zurück zur Körperlichkeit

 

Kam es auf dem musikalischen Gebiet zu einer Verdrängung der Körperlichkeit so wurde quasi parallel dazu Sexualität aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt. Sexualität wurde tabuisiert und in der Gesellschaft durch Metaphern und Codes umschrieben.

"Noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts sei es freimütiger zugegangen, sagt man. Die Praktiken wurden kaum verheimlicht, die Worte wurden ohne übertriebene Zurückhaltung gesagt und die Dinge ohne übermäßige Verhüllung; man lebte in vertrautem und tolerantem Umgang mit dem Unziemlichen"15 erklärt Michel Foucault in seiner "Repressionshypothese"16 die Unterdrückung der Sexualität. Als Ergebnis daraus entstand die vom Körper weitgehend entkoppelte, auf einer intellektuellen, zeichenhaften Ebene angesiedelte Erotik.

Daneben entwickelten sich über Jahrhunderte hinweg auch kulturelle Verhaltensmuster zwischen Männern und Frauen. Es ist unbestritten, dass Frauen und Männer unterschiedliche sexuelle Vorstellungen haben, die grundlegend biologischer, jedoch teilweise auch soziokultureller Natur sind. Judith Butler spricht bei der kulturellen Konstruktion von Sexualität von "Geschlechtsidentität"17, die sich durch Gestik, Mimik und Begehren äußert. "Geschlecht ist […] nicht Essenz, sondern Effekt, nicht Natur, sondern Kultur."18 Die Geschlechtsidentität des Mannes kann als entkörpert angesehen werden, während die Geschlechtsidentität der Frau auf Körperlichkeit reduziert wird.19

 

Auch in der Kunst bedurfte es lange Zeit einiger Umwege um Sexualität darstellen zu können, da auch in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten mannigfache Auffassungen von Sexualität gegeben waren. Die Kunst als ein Medium der Sinnlichkeit wird vom Menschen geschaffen und stellt dessen Emotionen dar.20 Zu einem die Sinnlichkeit und Emotion in den Vordergrund stellenden Umdenken kam es um 1900, einer Zeit des Umbruchs, einem Aufbruch in die Moderne. Erotik wurde von sexueller Erregung abgelöst, der Körper wurde zu einem zentralen Thema in allen Bereichen der Kunst. Avantgardistische Bewegungen formierten sich und versuchten revolutionäre Ideen umzusetzen und mit gesellschaftlichen Klischees zu brechen.  

 

III - Die Frau und sexuelles Ausdrucksverhalten in avantgardistischer Klangkunst 

 

Komposition

 

Im Bereich der Komposition gab es ein Umdenken, welches zu völlig neuen kompositorischen Möglichkeiten führte. Atonale, serielle oder elektroakustische Musik waren Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts mit denen Emotionen auf direkte Art zum Hörer gebracht werden konnten. Eine weitere Erneuerung war, dass vor allem Frauen in avantgardistischen Bewegungen den Bereich der Komposition für sich entdeckten und völlig unterschiedliche Zugänge fanden, Sexualität durch Komposition zum Ausdruck zu bringen.

 

Tsippi Fleischer versuchte Elemente der Weiblichkeit und Sexualität in ihren Liederzyklus Girl-Butterfly-Girl zu integrieren. Auf einer surrealistischen Ebene entsteht durch die Komposition eine sexuell erregende Stimmung.

Eine völlig gegenteilige Darstellung von Sexualität findet sich in den Werken der spanischen Komponistin Maria de Alvear. Die Bedeutung der Weiblichkeit und die provokative Art der Komposition räumen der Künstlerin einen besonderen Stellenwert in der avantgardistischen Klangkunst ein. Mit

Sexo: Zeremonie für eine Vokalsolistin, Solovioline und Orchester versucht sie die Schattenseiten der Sexualität aufzuzeigen. Im Gegenzug dazu erzählt Maria de Alvear in Vagina – Zeremonie für Stimme und Ensemble kompositorisch "die Geschichte einer tief verstandenen und empfundenen Sexualität."21

Mit dem Begriff des "Integralen Musiktheaters"22 fanden vor allem Frauen eine Möglichkeit, weibliche Rollenbilder zu dekonstruieren, durch zeitgenössische Blickwinkel neu zu gestalten und tabulos zu inszenieren. Adriana Hölszky benutzt in ihren Kompositionen äußerst provokative Mittel nicht nur, um herkömmliche Aufführungsweisen, sondern auch gesellschaftliche Tabuthemen zu überwinden. In Bremer Freiheit, ein Singwerk auf ein Frauenleben ist in der Hauptrolle Geesche zu sehen, die in ihrem Leben fünfzehn Männer ermordet hat und so paradox dies auch klingen mag trotzdem ein Liebeslied singt. In

Die Wände wird Sexualität impertinent dargestellt, obwohl das Stück damit inhaltlich eigentlich nichts zu tun hat. "Da hangeln Gefangene wie Affen hinter Gittern und fummeln, masturbierend, ihrem Gegenüber im Schritt. Eine Nackte besteigt die hintere Hälfte eines Pferdes, prompt erigiert der halbierte Hengst. Ein knapp geschürzter Knabe lässt offen sein Gemächte baumeln. Der Todesengel hat eine rote Rose im blanken Hintern."23

 

Die Ungleichheit von gesellschaftlichen Erwartungen und unkonventionellen Ausführungen werden auch in XXX:LIVE_NUDE_GIRLS von Jennifer Walshe zum Ausdruck gebracht. "Zum Gehechel der Vokalistinnen und den hektischen, gebrochenen Klängen der Instrumentalisten spult sich die durchaus banale Handlung um Sex und Gewalt, gewöhnlichen Tratsch und einen Todesfall ab, bis zur finalen Vergewaltigung plötzlich harmonische Dur-Akkorde erschallen, wie um gängige Erwartung durch Bestätigung im ungewohnten und unpassenden Umfeld doppelt zu brechen."24 Die Darstellerinnen sind als Barbiepuppen verkleidet, deren Bewegungen während der Aufführung gefilmt und auf Leinwand übertragen werden.

 

Stimme

 

Die Stimme kann als ureigenstes Instrument des Menschen situationsbezogen unterschiedliche emotionale Zustände hervorrufen. Vor allem durch die kulturelle Prägung wurden Stimmtypen kategorisiert, die heute vielleicht nicht mehr die gleichen Intentionen vertreten wie vor hundert Jahren. Frauenstimmen wurden ab Beginn des 20. Jahrhunderts facettenreicher. Tiefere Stimmlagen wurden in Verbindung mit Exotismus und somit auch mit Erotik gebracht und fanden großen Anklang beim Publikum. Durch neue musikalische Strömungen kam es zu einer "Mehrdimensionalität"25 des Frauentyps, der von der "femme fragile" bis hin zur "femme fatale" verschiedenste Facetten beinhaltete. Die Anrüchigkeit in der Stimme der Frau wurde an die Oberfläche befördert und vor allem im Jazz zum Ausdruck gebracht.

Mit Sprache ohne semantischen Inhalt arbeitet Meredith Monk, eine Performance Künstlerin, die in ihrer Arbeit besonders den Körper in den Vordergrund stellt26. Mit Programmen wie Songs from the Hill oder Our Lady of Late spielt sie sehr differenziert mit ihrer Stimme und ruft bei den Zuhörern durch Sexualität assoziierende Laute erregende Emotionen hervor. Ebenso benutz Jana Haimsohn für ihre Performances nur ihr Stimme und ihren Körper um dem Publikum erregenden Emotionen zu vermitteln.

 

Körper

 

Während durch den voranschreitenden Mediatisierungsprozess eine Entfernung von der unmittelbaren Körperlichkeit stattfand27, versuchten vor allem Avantgarden Klangkunst zu kreieren, die den Körper in den Mittelpunkt stellte. Das Verbotene, das Anrüchige und die totgeschwiegene Sexualität wurden in den verschiedenen Arbeiten thematisiert.

Im Bereich des Tanzes wurde lustvolles körperliches Ausdrucksverhalten in den Vordergrund gestellt. Besonders im Modernen Tanz kam es zu einer Reduktion auf das Wesentliche, nämlich Spannungs- und Lösungszustände mit dem Körper darzustellen und dem Publikum zu vermitteln. Dies wurde speziell von Frauen ausgeführt. Einerseits um zu provozieren, andererseits um aus einem gesellschaftlich gezeichneten Rollenbild auszubrechen.

 

Unter dem Begriff der feministischen Performance-Art wurde der Körper der Frau bewusst zu einem Objekt degradiert und als Zeichen sexueller Begierde überformt provokativ dargestellt. Mit Yoko Ono, die sich in ihrer Performance cut piece vom Publikum Stücke ihrer Kleidung abschneiden lies, oder Valie Export mit ihren berühmten Performances Tapp- und Tastkino und Aktionshose Genitalpanik nahmen Performances, in denen patriarchalische Machtverhältnisse angegriffen wurden, ihren Anfang.28 Der kulturell geformte Körper der Frau wird immer wieder aufgezeigt und provokativ überformt dargestellt.

 

Neben diesen Performances kam es in der Klangkunst durch die Weiterentwicklung der neuen Medien auch zu einer Interaktion von Körper und Technologie, in der der Körper zu einem hedonisch gesteuerten Objekt wurde. Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten des südkoreanischen Künstlers Nam June Paik mit Charlotte Moorman. In der Performance TV-Bra for living Sculpture spielte Moorman Cello und hatte anstatt eines BHs zwei Monitore direkt am Körper befestigt. Die Opera Sexotronique, in der Charlotte Moorman mit nacktem Oberkörper spielte, wurde durch die Verhaftung beider Protagonisten beendet.29 Mit Erotik beschäftigt sich auch Pipiloti Rist, die mit Filmen wie Pickelporno oder Selbstlos im Lavabad auf die Natürlichkeit der Sexualität zurückführen will.30 Auch in den Werken von Laurie Anderson wird "the pysical source of sound"31 als Grundelement der Musik hervorgehoben und mit Technologie verbunden. Liebe und Sexualität beschreibt sie in Werken wie Hothead oder La Langue d`Amour als eine Kommunikationsform zwischen Mann und Frau.

 

IV - Exkurs: Avantgardistische Rockmusik und Techno

 

Populäre Musik entwickelte sich als eine dem Mediatisierungsprozess entgegen gerichtete Musikform hin zu originärem Musizieren32. Auch hier entstanden Subkulturen, die sich durch neue Musikstile kritisch gegenüber der Gesellschaft und der Politik äußern. Auch hier sind es Frauen, die inszeniert werden und Sexualität verkörpern. Gegen dieses typische Klischee wenden sich die Bands der "Riot Grrrls", die im Zuge der Punkbewegung gesellschaftliche Normen der Frauen hinterfragen und provokant zum Ausdruck bringen. Nicht nur mit Bandnamen wie Bikini Kill oder Lunachicks machen Sie ihrem Unmut Luft, sondern auch mit ihrer Kleidung, die jede weibliche Seite verhüllt.

 

Ein Beispiel für die Inszenierung einer Rockgruppe gelang Andy Warhol mit der Gruppe The Velvet Underground die von Barber-Kersovan als "die erste avantgardistische Rockgruppe"33 bezeichnet wurde. Mit neuen musikalischen Stilen, einer multimediale Bühnenshow, Texten über sexuelle Perversion34 und Nico als Sängerin zogen The Velvet Underground das Publikum in ihren Bann. Vor allem mit dem Album The Velvet Underground & Nico und der Anspielung des von Andy Warhol selbst gestalteten Covers auf Sexualität und Verbotenes schafften Sie ihren Durchbruch.

 

Mit Pornographie setzt sich Lydia Lunch, eine Performance Künstlerin die zwischen Avantgarde und Rockmusik anzusiedeln ist, auseinander. Provokant bringt sie Sexualität in Performances wie Real Pornography mit Gewalt und Krieg in Verbindung.

Im Mainstream ist Madonna anzusiedeln, die hier jedoch erwähnt sei, da sie sich von einem gegenteiligen Standpunkt mit Sexualität in der Popmusik beschäftigte, als viele Sängerinnen vor ihr. Unter dem Motto Sex sells wurden Frauen in der frühen Populären Musik des 20. Jahrhunderts als Begleiterinnen von Sängern eingesetzt. Dagegen setzte sich Madonna als Frau selbst in Szene und machte Männer zu ihren Sexsklaven35, was mit dem Album Erotica auf den Gipfel getrieben wurde.

 

Eine völlig andere Form, Musik körperlich zu erleben ist Techno. In den amerikanischen Discotheken der 1980er Jahre entstanden36, wurde diese Musikrichtung bald von vielen europäischen Elektro-Pop-Gruppen aufgenommen, weiterentwickelt und zu einem Massenphänomen verbreitet. Die Musik, von Lichtinstallationen begleitet, wird stundenlang in unermesslicher Lautstärke dargeboten und verleitet das tanzende Massenpublikum zu tranceartigen Zuständen. Eine auf die Spitze getriebene körperliche Erregung wird angestrebt und versucht, so lange wie möglich zu halten. Der Körper spielt hier eine zentrale Rolle, da die Musik, besonders durch die immense Lautstärke, durch diesen aufgenommen wird. Eine neue Köperkultur entsteht, die hedonisches Körperverhalten in den Mittelpunkt stellt.

 

V - Männer und Sexualität in avantgardistischer Klangkunst

 

Auch einige wenige Männer haben sich im Bereich der avantgardistischen Klangkunst mit Körperlichkeit und Sexualität beschäftigt. Versuchen Frauen vorwiegend zu provozieren, so versuchen Männer Musik und Technologie an und in ihren eigenen Körpern als Schnittstellen zu vereinen. Es ist zu beobachten, dass Sexualität bei Künstlern im avantgardistischen Bereich zweitrangig behandelt wird oder sich durch die Arbeit mit dem Körper ergibt. Für Männer ist es sehr schwierig, vor allem vor dem Hintergrund des Feminismus, Sexualität zu thematisieren und dennoch nicht als sexistisch zu gelten. Deshalb wird hier wieder häufig mit Zeichen gearbeitet, die sexuell erregendes Verhalten assoziieren. Der australische Performancekünstler Stelarc benutzt zur Erweiterung seines Körpers medizinische Instrumente37. Das Publikum kann körperliche Erregungen des Künstlers durch steigende Herz- oder Atemfrequenzen wahrnehmen. Ebenso arbeiten Harry de Wit oder Alvin Lucier, die mittels Mikrofonen im Mund oder Kopfhautdetektoren körperliche Erregungen „hörbar“ machen und über eine codierte Erregung darstellen. Als eine der wenigen Performances von Männern, die sich direkt mit Sexualität auseinandersetzen ist hier Etant Donnés mit der Performance L`autre Rive zu nennen.

 

VI - Schlussfolgerungen

 

In der avantgardistischen Klangkunst des 20. Jahrhunderts wurde mit Erfolg der Körper als wichtiges Medium zur Vermittlung von Musik und Klang wiederentdeckt. Die zeichenhafte, semantisch besetzte Musik wurde von PerformancekünstlerInnen, SängerInnen und KomponistInnen der Avantgarde überwunden und es kam zu einer Hinwendung zur Einfachheit und zur Körperlichkeit. Codierungen und Metaphern, die besonders auf dem Gebiet der Sexualität verankert waren, wurden aufgehoben und sexuelle Erregung wurde dem Publikum ohne Umschreibungen dargebracht.

 

Besonders Künstlerinnen versuchen die Rolle der Frau in der Gesellschaft und auch im sexuellen Bereich aufzuzeigen und darzustellen. Diese provokativen, überformten Aufführungspraxen dienen mehr dazu, die Öffentlichkeit zu erreichen, als den Körper der Frau im Zusammenhang mit Sexualität noch weiter zu denunzieren. Mit dem Körper versuchen Frauen im Tanz, im Gesang und in Performances Sexualität assoziierendes Verhalten zum Ausdruck zu bringen und festgefahrene Rollenbilder zu überwinden.

Mit den Möglichkeiten, die sich durch die Entwicklung und den Gebrauch der neuen Medien ergaben, wurde der Körper in Interaktion mit Technologie gestellt. Es erfolgte ein Transfer der Körperlichkeit vom Musiker auf den Rezipienten und vor allem im Techno kam es zum Entstehen einer Erlebnisgesellschaft in der der Körper zu einem hedonisch gesteuertem Objekt wurde, das Erregung und Lust ausdrückt.38

 


  1. Brusatti, Otto (1990), Im Klang der Sinne. In: Otto Brusatti (Hg.), Erotik. Versuch einer Annäherung. Wien: Historisches Museum der Stadt Wien, S. 82
  2. Vgl. Wundt, Wilhelm (1874), Grundzüge der Physiologischen Psychologie. Leipzig: Engelmann, S. 431
  3. Ebd., S. 431
  4. Vgl. Jauk, Werner (1982), Komplexität und hedonische Empfindung von Liedern verschiedener Epochen. Dissertation der Karl-Franzens-Universität Graz 57, Graz: Technische Universität Graz, S. 29-30
  5. Schenker, Heinrich (1978), Harmonielehre. Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1906. Mit einem Vorwort von Rudolf Frisius. Wien: Universal Edition A. G., S. 6
  6. Shepherd, John (1992), Warum Popmusikforschung? In: PopScriptum 1/92 – Begriffe und Konzepte, S. 43 – 67. [Online] http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscript/theme/pst01/pst01020.htm [22. September 2007]
  7. Vgl. McClary, Susan (1999) Feminine endings: music, gender and sexuality. (5. Auflage), Minnesota: University of Minnesota Press, S. 21
  8. Vgl. Blacking, John (1973), How musical is man? Seattle: University of Washington Press. S. 9
  9. Bloss, Monika (1992), »Weibliche Schlüsse« als Anfang feministischer Musik-Kritik? – Anmerkungen zu einem Konzept. In: Zwischentöne 13: Musikgeschichte als Kulturgeschichte, Bericht vom VII. Studentischen Symposium für Musikwissenschaft Freiburg, Freiburg 1993, S. 42 [Online] http://www2.hu-berlin.de/fpm/texte/bloss1.htm [6. Oktober 2007]
  10. Vgl. Shepherd, John (1992), Warum Popmusikforschung? In: PopScriptum 1/92 – Begriffe und Konzepte, S. 47. [Online] http://www2.hu-berlin.de/fpm/popscript/theme/pst01/pst01020.htm [22. September 2007]
  11. Vgl. Knepler, Georg (1982), Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung. (2. Auflage), Leipzig: Reclam, S. 32-33
  12. Clynes, Manfred (1996), Auf den Spuren der Emotionen. Mit einem Geleitwort von Yehudi Menuhin. Freiburg im Breisgau: Verlag für Angewandte Kinesiologie, S. 58
  13. Vgl. Ebd. S. 58
  14. Clynes, Manfred (1996), Auf den Spuren der Emotionen. Mit einem Geleitwort von Yehudi Menuhin. Freiburg im Breisgau: Verlag für Angewandte Kinesiologie, S. 134
  15. Foucault, Michel (1997), Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 9.Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11
  16. Ebd. S. 27-32
  17. Butler, Judith (1991), Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 22
  18. Bechdolf, Ute (2001), Männlich vs. Weiblich? De- und Rekonstruktionen von Geschlechterdifferenz in Musikvideos. In: Sibylle Gienger / Martina Peter-Bolaender (Hg.), Frauen, Körper, Kunst: Frauen- und Geschlechterforschung bezogen auf Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst. (Band 3), Kassel: Furore Verlag. S. 239
  19. Vgl. Butler, Judith (1991), Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 22
  20. Vgl. Döpfner, M. O. C. & Garms, Thomas (1986), Erotik in der Musik. Frankfurt am Main:Ullstein, S. 14
  21. Mörchen, Raoul (1999), Raum und Energie. Die deutsch-spanische Komponistin Maria de Alvear. In: Musik Texte 80, S. 9
  22. Kager, Reinhard (2002), Experimentelles Musiktheater: Von John Cage und Mauricio Kagel bis Helmut Lachenmann. In: Siegfried Mauser (Hg.), Musikthater im 20. Jahrhundert.(Handbuch der musikalischen Gattungen Bd. 14), Laaber: Laaber-Verlag. S. 339
  23. Umbach, Klaus (1995), Rose im Hintern. In: Der Spiegel 21, S. 206
  24. Heißenbüttel, Dietrich (2005), An den Rändern der Konvention. Die Komponistin Jennifer Walshe. In: Neue Zeitschrift für Musik 1/2005, S. 53
  25. Unseld, Melanie (2001), „Man töte dieses Weib!“. Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 68 
  26. Vgl. Gronemeyer, Gisela (1992), Kommunikationskraft der Gefühle. Zu Meredith Monk und Laurie Anderson. In: MusikTexte 44, S. 11
  27. Vgl. Jauk, Werner (2005), Multisensorische Künste. Musikalisierung der Künste des „common digit“ und der „re-defined body“. In: Sandro Droschl / Christian Möller / Harald Wiltsche (Hg.) Techno – Visionen. Neue Sounds, neue Bildräume. Wien, Bozen: Folio-Verlag. S. 95
  28. Vgl. Hess, Barbara (2003), Valie Export. In: Uta Grosenick (Hg.), Women Artists. Künstlerinnen im 20. und 21. Jahrhundert. Köln etc: Taschen. S. 52 – 55.
  29. Vgl. Sanio, Sabine (2004), Raum, Klang, Objekt – Nam June Paik, ein Wegbereiter der Video-Kunst. In: Frieder Reininghaus / Katja Schneider (Hg.), Experimentelles Musik- und Tanztheater. (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 8), Laaber: Laaber Verlag. S. 153 
  30. Vgl. Lehmann, Ulrike (2003), Pipilotti Rist. In: Uta Grosenick (Hg.), Women Artists. Künstlerinnen im 20. und 21. Jahrhundert. Köln etc: Taschen. S. 167
  31. McClary, Susan (1999) Feminine endings: music, gender and sexuality. (5. Auflage), Minnesota: University of Minnesota Press, S. 136
  32. Vgl. Jauk, Werner (2002a), Pop: Mediatisierung und der dissidente Körper. In: Helmut Rösing / Albrecht Schneider / Martin Pfleiderer (Hg.), Musikwissenschaft und populäre Musik. Versuch einer Bestandsaufnahme. (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft Bd. 19), Frankfurt am Main, etc.: Peter Lang Verlag. S.131
  33. Barber-Kersovan, Alenka (1996), “Pop goes Art” – “Art into Pop”. Andy Warhol, The Velvet Underground und die Folgen. In: Helmut Rösing (Hg.), Mainstream, Underground, Avantgarde. Rockmusik und Publikumsverhalten. Arbeitskreis Studium populärer Musik e. V. (Beiträge zur Popmusikforschung 18), Karben: CODA Musikservice und Verlag. S. 73
  34. Vgl. ebd. S. 66
  35. Vgl. Barber-Kersovan, Alenka (2000), Madonna – The Material Girl. Eine amerikanische Karriere. In: Alenka Barber-Kersovan / Annette Kreutziger-Herr / Melanie Unseld (Hg.), Frauentöne – Beiträge zu einer ungeschriebenen Musikgeschichte. (FORUM Jazz Rock Pop, Bd. 4), Karben: CODA. S. 274
  36. Vgl. Jerrentrup, Ansgar (1992), TECHNO – vom Reiz einer reizlosen Musik. In: Helmut Rösing (Hg.), Stationen populärer Musik: vom Rock’n’Roll zum Techno. Referate der ASPM-Jahrestagung vom 6. bis 8. November 1992 in Leipzig (Teil 2), Arbeitskreis Studium populärer Musik e. V. (Beiträge zur Popmusikforschung 12), Karben: CODA Musikservice und Verlag. S. 48
  37. Vgl. Barthelmes, Barbara (2000), Urbane Aboriginale. In: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975-2000. (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 4), Laaber: Laaber Verlag. S. 294
  38. Vgl. Jauk, Werner (2005), Multisensorische Künste. Musikalisierung der Künste des „common digit“ und der „re-defined body“. In: Sandro Droschl / Christian Möller / Harald Wiltsche (Hg.) Techno – Visionen. Neue Sounds, neue Bildräume. Wien, Bozen: Folio-Verlag. S. 103