Vermittlung Magazin

Vorbilder, Kollektive, Ideen

Ein vernetztes Sinnen über Frauen in der Klangkunst aus wissenschaftlicher und kuratorischer Sicht in Bezug auf die Karlsruher Ausstellung Sound Art. Klang als Medium der Kunst  

ESSAY
Julia Gerlach

Musikwissenschaftlerin und Multimediakonzepterin, Publizistin und Redakteurin zu aktueller Musik. Projektkoordinatorin und Kokuratorin der Ausstellung "Sound Art. Klang als Medium der Kunst" am ZKM.

"[...] I had been to New York several times by that year and Morton Feldman wanted to introduce me to composers at Max Polakov's house-- they used to gather there and hang out. So I went to a gathering, and Morty introduced me as "the world's most famous lady composer." I had to take exception to that. I told Morty that was not exactly how I wanted to be introduced, because it marginalized me immediately. I just wanted to be introduced as a composer. [...]"1 (Pauline Oliveros, 2003)

Der nachfolgende Text möchte nicht eine marginalisierende feministische Geschichte der Klangkunst erzählen, sondern den bestehenden Diskurs komplettieren. 

 

Die Notwendigkeit der Historie, Grabungen

Die letzten fünf bis zehn Jahre zeichnen sich allgemein durch (Wieder-) Belebungen historischer Positionen und künstlerischer Praxen / Experimente beim Umgang mit elektronischen akustischen Medien aus. Es scheint, als sei die Zeit des Immer-Weiter-Entwickelns, des Neues-Schaffens nun einer Wahrnehmung der historischen Dimension der neuen Musikformen gewichen, als müsse diese notwendig das Gegengewicht zur permanent sich weiter ausdifferenzierenden musikalischen Praxis bilden, um sich nicht im Beliebigen zu verlieren. Dies gilt für Klangkunst (eigenständige Kunstform seit den 1980er Jahren) ebenso wie für elektronische Musik (seit den 1950er Jahren), man muss sich heute auf bereits erprobte Technologien, Strategien, Ideen beziehen, wenn man künstlerisch nicht gleiches wiederholen will. Zugleich ist es eine kuratorische Aufgabe, Kennlinien, Entwicklungsstränge im Zeitgenössischen aufzuzeigen und zu strukturieren. Die Grabungen des letzten Jahrzehnts förderten auch einige seit den 1950ern aktive Frauen zutage, die bislang weniger Beachtung fanden und in historische Sammlungen kaum Eingang gefunden haben.2 Ein zweiter wesentlicher Faktor für diese überfällige Entwicklung ist in der breiten Genderdebatte zu sehen, die zu einer aktiven Suche und Aufarbeitung führt. Diese wird keineswegs nur von Frauen vorangetrieben, sondern gleichermaßen von Männern. In Bezug auf aktuelle Praktiken von jungen Klangkünstlerinnen ist der Blick auf diese Frauen in der jüngeren Avantgarde-Musikgeschichte fruchtbar, weil mögliche Vorbilder sichtbar werden, deren ästhetisches Interesse Ansätze für die jüngere Generation liefern kann.

Es kann kein Zufall sein, dass Eliane Radigue (geb. 1932) derzeit eine der gefragtesten Komponistinnen ist, eingeladen wird von Medienkunstfestivals wie der Ars Electronica (2006 Goldene Nica) und Konzertveranstaltern instrumentaler Musik. Ihr vergleichsweise kleines Oeuvre von zeitlich gedehnten, sensibel austarierten elektronischen Werken ist heute bekannt und hochgeschätzt. Ähnlich ergeht es derzeit anderen verschollenen bzw. nie öffentlich anerkannten Pionierinnen der elektronischen Musik wie der Britin Daphne Oram (1925-2003, Aufarbeitung ihres Nachlasses seit 2007), deren ab 1962 entwickelte Oramics Maschine3 heute zur ständigen Sammlung des Londoner Wissenschaftsmuseums zählt. Mithilfe dieses technischen audiovisuellen Gerätes konnten über handgemalte grafische Symbole elektronische Klänge geformt werden [siehe umfangreiche Website: http://daphneoram.org, 22.06.2012]. Oder die Dänin Else Marie Pade (geb. 1924), die nach frühen interessanten von der Musique Concrète beeinflussten Kompositionen mit Tonband aufgab und bis 2000 in Vergessenheit geriet oder Maryanne Amacher (1938-2009), deren Konsequenz der kompositorischen Arbeit legendär ist und die trotz der zu Lebenszeiten erkannten herausragenden kompositorischen und konzeptuellen Leistungen4 kaum ein Auskommen finden konnte. Ihr sind in diesem Jahr (2012) mehrere (Teil-)Ausstellungen und Konzerte (u.a. in Karlsruhe und Berlin) gewidmet. Oder der Elektroniker Jan Jelinek, der 2008 – möglicherweise in Ermangelung einer deutschen Vergessenen5 – die Elektronikerin Ursula Bogner erfand und nun sein Alter Ego nicht mehr los wird. Nicht zu vergessen die Amerikanerinnen, Pauline Oliveros (geb. 1932), Annea Lockwood (geb. 1939), Allison Knowles (geb. 1933), Yoko Ono (geb. 1933) oder Meredith Monk (1942), die sich als Hörpionierinnen, Erfinderinnen kollektiven Arbeitens und engagierte Kämpferinnen, Fluxus-Aktivistinnen sowie Klangerforscherinnen und -sammlerinnen mehr oder weniger deutlich in die Musikgeschichte schrieben.

Neben Re-Enactements durch jüngere Komponistinnen/Klangkünstlerinnen, Ausstellungen und Archivierungen leisten auch Musikzeitschriften/Journalisten  wie zum Beispiel die britische Zeitschrift The Wire einen wichtigen Beitrag in der Aufarbeitung dieser Musikgeschichte im Feld elektronischer Musik/Klangkunst. Die genannten Frauen sind zwar nicht im engen Sinne oder ausschließlich Klangkünstlerinnen, haben aber alle intensiv am Klang gearbeitet, installative Formen erprobt und vor allem den Vorgang des Hörens auf sehr individuelle und stringente Weise hinterfragt und neu definiert – und dies, das Hinterfragen und Thematisieren des Hörens ist eine der zentralen Aspekte der Klangkunst. Sie müssen mit ihren kompositorischen und experimentellen Ansätzen als Wegbereiterinnen der Klangkunst gewertet werden. In der Ausstellung Sound Art. Klang als Medium der Kunst sind sie größtenteils neben La Monte Young, John Cage, Iannis Xenakis, Bruce Nauman oder Max Neuhaus mit Werken oder Dokumenten präsentiert.

 

Vorbilder – re-enacted

 

Eliane Radigue / Kaffe Matthews

 Während der amerikanische Komponist La Monte Young einen Zahlenkosmos genauestens strukturierte und im Dream House (Konzept von 1962) ein intensives in sich stehendes Sinustongeflecht konfigurierte, den man – einer Audioskulptur gleich – sich durch den Raum bewegend oder sich leicht drehend erkundet, hörte die in Frankreich geborene Komponistin Eliane Radigue in intimem Dialog mit ihrem ARP 2500 Synthesizer in ihre Klänge hinein und schuf durch minimale, kontrollierte Regelungen der Synthesizerknöpfe einen den hörenden Menschen – insbesondere sein Zeitempfinden – veränderndes evolutionäres Klangkontinuum. Beiden gemeinsam ist der Einfluss östlichen Denkens6, das transformatorische ästhetische Anliegen in Bezug auf die Rezeption sowie musikalisch die in die Unendlichkeit greifende formale Anlage und das breite Frequenzspektrum von sehr tiefen fülligen Drones bis zu hohen Frequenzen, die einen sonisch weiten, die Zuhörer umschließenden Raum erzeugen.

"Meine Absicht gilt, grob gesprochen, einer Sache, die ich nur auf dem Synthesizer verwirklichen kann: nämlich von einer Klangmasse auszugehen und sie in der Küche der Modulationen von innen heraus zu verändern."7 Radigues Arbeitsweise beinhaltet einen direkten Kontakt mit dem Instrument (Synthesizer) und dem jeweils resultierenden Klang, ist dialogisch und evolutionär. Eines von Radigues frühen Werken diesen Charakters ist die mit Tape und Feedback komponierte Installation Omnht (1970). Diese frühe Komposition wurde nun jüngst von der britischen Klangkünstlerin und Musikerin Kaffe Matthews 2011 im Rahmen einer umfassenden Radigue-Retrospektive in London für ihr Sonic Bed_Scotland adaptiert.

 

 

Das Sonic Bed8, ein Bettkasten, in den an den Seitenwänden und unter der Matratze Lautsprecher für die Wiedergabe von bis zu 12-kanaligen Kompositionen eingebaut sind, ist wiederum Ergebnis des mehrere Jahre währenden kollaborativen Projektes Music for Bodies9, in dem das musikalische Potential von Körperklängen einerseits und andererseits die Hörfähigkeit des Körpers erforscht wurden.

 

Das generelle akustische Set-Up des Sonic Bed schafft ein intensives körperliches Hörerlebnis in einem geborgenen Raum. Der durch die Matze vermittelte taktile Kontakt zu den Lautsprecherschwingungen erzeugt ein nahezu skulpturales Erleben von Klang und wird als Massage-ähnlich empfunden. Ein wichtiger Aspekt für das authentische Erleben ist, dass Kaffe Matthews im Selbstversuch, also im Bett liegend, für diese Hörsituation, also für das Instrument Sonic Bed eine räumlich-körperliche Dramaturgie komponierte. In ihrer eigenen Komposition Bend (2005) verwendet sie vor allem Klänge des Theremins, einem 1919 entwickelten, mit Handgesten zu spielenden elektrischen Musikinstrument und generiert daraus durch kontinuierliche Tonhöhen-Transpositionen Glissandi oder tiefe, intensive ins Pulsieren geratende Drones, die sie zu komponierten Passagen moduliert. Matthews, die seit 2004 mit Eliane Radigue bekannt ist, sie in das Elektronikerinnen-Kollektiv Lappetites integrierte, erkannte in der Komposition Omnht von Radigue, den intensiven Frequenzen, tiefen Drones, der körperlichen Gestalt des Klang sowie der zeitlosen prozessualen formalen Anlage das große Potential für eine Inszenierung im Sonic Bed. Die Re-Enactements durch Matthews ereignen sich auf künstlerischer und sozialer Ebene. Durch gemeinsame Auftritte und die Integration in ein bekanntes Projekt der Gegenwarts-Klangkunst wird Radigue aktualisiert und ins Bewusstsein gerückt. Zudem äußern die anderen Mitglieder der Lappetites, dass der mehrjährige Austausch mit Eliane Radigue eine große Bedeutung für die eigene künstlerische Praxis hatte. In der Karlsruher Ausstellung wird das Sonic Bed mit beiden Kompositionen von Matthews und Radigue im 2-Wochen-Turnus bespielt.

 

Pauline Oliveros

Während John Cage das Material der künstlerischen Praxis für den Zufall öffnete, Strategien des Komponierens anderen außermusikalischen Strukturen überantwortete und Medien mit Künsten heiter konstellierte, suchte Oliveros neue Klänge, Hörerfahrungen und Kontexte für ihre musikalischen Ideen, erforschte die Grenzen zwischen Avantgarde und Spiritualität, zwischen Musik und Alltags-Lebenspraxis und realisierte etwa als Land-Art-Event die Komposition Rose Moon (1978). Das Szenario eines kollektiven meditativ-spirituellen Hörevents trägt den Untertitel „Ceremony“. Auch schrieb sie statt Konzeptstücken textbasierte Sonic Meditations für die Realisierung/Erfahrung alleine oder im Kollektiv, wobei es um Klangvorstellungen oder um tatsächliche klangliche Äußerungen – etwa der Stimme – geht. Oliveros legte entscheidenden Wert darauf, dass das Erlebnis mit Klang ein grundsätzlich Körperliches ist – diese Verbindung wird auch in den Sonic Meditations (1971) angeleitet. Ihr Instrument, das Akkordeon, war für sie eine Erweiterung ihres eigenen Körpers. “Her experience of music and sound, for instance, is extremely visceral. She describes how her entire torso – not just her ears – becomes a receptor for sound, and she insists that the listeners pay attention not only to external stimuli, but also to the sounds of their own bodies.“10 Die kollektive Arbeits- und Erfahrensstruktur praktiziert Oliveros bis heute, sie begründete Deep Listening und realisierte jüngst 2012 in Kollaboration mit Stelarc und dem Avatar Orchestra Metaverse und einem großen Team die virtual-reality-Performance Rotating Brains / Beating Heart auf der Plattform Second Life, wiederum eine Zeremonie, wiederum mit Fokus auf Körper und Klang. 

 

 

Die in der Ausstellung präsentierten Sonic Meditations oszillieren zwischen Kunst und Alltagspraxis, Anleitung zur Selbsterfahrung, Verbalpartitur und Hörschule und bespielen einen irritierenden Zwischenbereich, der für Oliveros künstlerische Praxis typisch ist und musikgeschichtlich Avantgarde.

 

Maryanne Amacher / Micah Silver

Laut Erfahrungsberichten konnte Maryanne Amacher ihre Assistenten durch stundenlanges Einstellen einzelner Lautsprecher aufreiben und erzielte doch schließlich eine Kraft und Klarheit der Klänge und spezielle Ear Sounds, die für jeden Hörer, der diese jemals hören konnte, unvergessen bleiben. Die intensive Arbeit an speziellen, quasi künstlichen Hörerlebnissen schloss die Erforschung des Raums, der die Ausbreitung akustischen Schwingungen maßgeblich bedingt, die Gravitation und den Gleichgewichtssinn zwingend mit ein. Der langwierige akribische Prozess in Amachers Praxis betraf nicht nur die tatsächliche klangliche Umsetzung ihrer Ideen, sondern bezog sich auf den gesamten Entstehungsprozess eines Werkes. Sie sammelte unzähliges für Außenstehende unverbundenes Material, in den letzten Jahren vor allem im Internet und stellte Untersuchungsreihen auf, nahm Klänge auf und suchte nach dem Spezifischen. In den letzten beiden Jahren Ihres Lebens arbeitete sie an der komplexen, ortsspezifischen und installativen Raumkomposition Lagrange für das Medienzentrum EMPAC in den USA, in welchem sie die spezielle Architektur des neuen Gebäudes klanglich bespielen wollte. "Der Titel LAGRANGE bezieht sich auf Lagrange-Punkte: Orte im Weltraum, an denen die Schwerkraft und die Orbitalbewegung eines Körpers einander ausgleichen."11 Dabei fokussierte Amacher auf der Suche nach besonderen Resonanzen ungewöhnliche Räume in der Architektur des Gebäudes wie etwa den höhlenartigen Raum unter der Konzertsaaltribüne, in den von der Tribüne aus einzelne Lichtblitze fielen oder die akustischen Ausbreitungswege durch die Klimaanlage. Der Nachlass von Maryanne Amacher wird durch eine

Gruppe von jüngeren Komponisten aufgearbeitet und zeitigt bereits 2012 mehrere Ausstellungsprojekte, in denen insbesondere die Arbeitsweise von Amacher zutage tritt, wie in dem von Micah Silver für Karlsruhe konzipierten Lagrange gewidmeten Raum für Maryanne Amacher. Der Komponist Bill Dietz realisiert die erste Konzerte des Instrumentalstücks mit Elektronik Glia (2005) nach Amachers Tod im Begleitprogramm der Ausstellung und in Berlin.

 

 

Daphne Oram und Else Marie Pade

Auch Else Marie Pade und Daphne Oram sind in der Karlsruher Ausstellung vertreten. Im Rahmen des von Gastkurator Morton Sondergaard verantworteten Bereichs Unheard Avantgarde, der generell die weitgehend unbekannte Avantgardeströmung in den skandinavischen Ländern wiederbelebte, setzte sich HC Gilje mit Else Marie Pade auseinander und schuf korrespondierend zu den akustischen Tonhöhen-Umkreisungen einer 1958 entstandenen Komposition eine auf Lichtbändern basierende Umkreisung. Daphne Orams Oramics wurde 2011 durch eine App des Goldsmith Colleges für iPhone zugänglich gemacht, bei der man die audiovisuelle Funktionsweise der Oramics-Maschine auf digitaler Basis nachvollziehen kann. Im Themenfeld audiovisueller Transformation und Sonifikation im Kontext von Klangkunst wird Oram in Zukunft mitzubedenken sein. Eine Vergleichsstudie zwischen dem UPIC von Iannis Xenakis und Daphne Orams Oramics steht noch aus.

 

Das Hören erneuern

 

Körperliches Hören

Der Klangkünstler Bernhard Leitner (geb.1938) gilt gemeinhin als einer der Pioniere in der Erforschung des körperlichen Hörens. Bei seiner TON-LIEGE von 1975, auf die sich der Hörer legt, schwingen die Klänge so hin und her, dass sich der Ton in den Körper verlagert (siehe http://soundart.zkm.de/ton-liege-1975-objekt-edition-2005-bernhard-leitner/ , 22.6.2012). Leitner erforscht, wie Schallwellen auf den Körper treffen, begreift Körper als Kontaktfläche, die von Tönen abgetastet wird und in den Töne punktuell eindringen. So kann sich im Innenraum des Körpers als Pendant zum Außenraum eine Ton-Raum-Skulptur materialisieren. Leitner interessiert dabei die Dreierbeziehung Klang – Raum – Körper. Bei Matthews oder Oliveros geht es hingegen um die tatsächliche Berührung, das Spüren, vielleicht sogar um eine Form der Verschmelzung von Körper und Klang. In Kaffe Matthews Sonic Bed  wird der menschliche Körper von Klang umschlossen, er tritt in einen physische Dialog. Die physische Klangerfahrung basiert dabei zentral auf Körperschall, wobei der Körperschall in seiner Intensität skulpturale Züge annehmen kann, selbst zu einem Körper wird.
Für Pauline Oliveros ist der Körper ein großer Rezeptor für Klang. Eliane Radigues Körperverständnis konzentriert sich auf Zeitempfinden, den Pulse, und die meditative Entspannung des Körpers. Komplementär dazu zielt Maryanne Amacher mit ihren Tonexperimenten auf die Grenzauslotung des menschlichen Körpers in Bezug auf seine Hörfähigkeit.

 

Hörinhalte und Hörposition wechseln

Christina Kubischs12 Installation Wolken (2012) ist eine neue Arbeit in ihrer Serie von Werken auf der Basis elektromagnetischer Felder. Durch Induktionskopfhörer transformiert sie die Felder in hörbare Signale aus denen sie eine Komposition geflochten hat. 12 Kanäle werden in der Wolke aus dickem rotem Draht ineinander gewalkt. Für die Hörer, die sich die speziellen Kopfhörer aufsetzen, wird eine andere, eine unbekannte Welt hörbar, die das Ungewisse berührt, die vielleicht sogar etwas Erschreckendes hat. Die mit Spezialmikrophon aufgenommenen Klänge stammen großteils aus den Serverräumen des Zentrums für Kunst und Medientechnologie. Über die Metapher der Wolke rekurriert Kubisch auf die Illusion eines immateriellen Cloud Computings. Hinter jeder Cloud verbergen sich gigantische (strahlende) Serverräume. In diesem Sinne ist Wolken auch ironisch-aufklärerisch. Was die Rezeption anbelangt, wird eine explorative Haltung durch die Kopfhörer initiiert. Was man hören wird ist Rätsel. Durch das bewusste, das notwendige Aufsetzen der Kopfhörer, stimmt sich der Hörer auf die Arbeit ein, ein kleines Ritual, um sich dem Hören zu öffnen, dem spezifischen Hörvorgang. Die Rezipientin begibt sich in eine bewusste Hörposition.

 

 

Auch bei Hanna Hartmanns Komposition Catacombs (2010) wird die Hörposition verändert, der Rezipient zieht die Schuhe aus, stellt oder legt sich auf die hochglanzrotlackierten Platten und hört ein Hörstück, das ihn in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, in eine andere Situation entführt. Der Klang kommt von unten, von unter den Platten, die Räumlichkeit der Klänge, der Sprache beinhaltet den akustischen Raum von Katakomben. Das Einfühlen in diese andere Welt wird durch die Veränderung der Hörposition unterstützt, die Aufmerksamkeit wird durch den Switch gelenkt, gerichtet. Obwohl das primäre Hören hier nicht körperlich sondern mit den Ohren ist, so wirkt doch die Schallübertragung auf die Fußsohlen oder den Körper (wenn man liegt) auf die Rezeption und das Entschlüsseln die semiotischen Zeichen des Werkes entscheidend ein. Noch deutlicher wird die Veränderung bei Kaffe Matthews Sonic bed: Hier muss der Rezipient sich komplett auf eine ungewohnte Hörsituation einstellen.

 

Auch in Kirsten Reeses Installation/Audio Walk Zoobrücke (2012) für den öffentlichen Raum, auf einer über den Karlsruher Zoo führenden Fußgängerbrücke, wird der Hörer zu einer Realitätsüberprüfung aufgefordert und wechselt dafür die Hörposition. Entweder über den vor Ort angebrachten QR-Code oder einen am Zoo erhältlichen MP3-Player kann der Audiowalk abgerufen werden. Der Rezipient folgt dann hörend einem Audiowalk, in dem sich künstlich generiertes Audiomaterial und Samples echter Tierstimmen, Worte und erzählte Geschichten mit der sichtbaren Realität vermischen, die Realität kritisch reflektieren oder irritieren. Der Akt ist auch in diesem Fall bewusst. Die Klanginstallation, die am anderen Ende der Zoobrücke installiert ist, spielt ebenfalls mit künstlichem Tierlauten, die mit dem Fairlight-Synthesizer, einem der ersten digitalen Synthesizer (1970) gesamplet worden waren.

 

 

In ihrer Installation I keep falling at you wendet die indische Künstlerin Shilpa Gupta eine andere Strategie an, um die Hörer auf die Arbeit einzustimmen: Eine dichte, lange Traube von Mikrophonen hängt in einem hohen, völlig abgedunkelten Raum. Nur zwei kleine Lichtspots sind auf die Mikrophontraube gerichtet. Der Rezipient muss sich erst an die Dunkelheit gewöhnen ehe er um die Skulptur herumgeht. Er hört dabei Geräusche, die dem Alltag entstammen die aber schwer zuzuordnen sind und die Stimme einer Frau die sanft singt: "I keep falling at you."

Ob nun durch das Schuhe-ausziehen, das Hinlegen oder Kopfhörer-aufsetzen, oder auch durch Dunkelheit: die Hörposition und damit die Hörhaltung zu modifizieren ist ein wichtiges künstlerisches Mittel in der Klangkunst. Es erzeugt Aufmerksamkeit auf ungewohnte Klänge oder Hörerfahrungen.

 

Feministische Kollektive

Bei den Re-enactements und auch der Entwicklung neuer Ideen kann man bei Frauen der Szene, ob nun Klangkünstlerinnen oder Kuratorinnen eine verstärkte Vernetzung beobachten. Dies hängt einerseits mit der generellen Entwicklung hin zu kollektiven und kollaborativen Strategien zusammen, andererseits muss dies auch als Reaktion gedeutet werden auf die nach wie vor von Männern zahlen- und funktionsmäßig dominierte musikalische Szene, in der ein Kollektiv mehr Sichtbarkeit erhält als eine Einzelperson. Das Kollektiv "Les Femmes Savantes" verfolgt künstlerische und soziale Ziele: Einerseits sind die Mitglieder (Ute Wassermann, Ana Maria Rodriguez, Sabine Ercklentz, Hanna Hartmann, Andrea Neumann) in vielen Projekten eng künstlerisch miteinander verbunden – da alle sowohl kompositorisch als auch performativ tätig sind, wechseln die Funktionen und Konstellationen. Andererseits erhalten sie durch gemeinsame PR und Konzerte mehr Aufmerksamkeit. Dies gilt ähnlich auch für die bereits erwähnten von Kaffe Matthews gegründeten "Lappetites", deren Formierung auf das Manko von Frauen in der Laptop-Szene zurückgeht. Antye Greye-Fuchs betont in diesem Kontext die Wichtigkeit von Kollaborationen mit anderen Musikerinnen und die selbstverständlichere musikalische Zusammenarbeit.

Ein fiktives Kollektiv stellt die feministische Medienkünstlerin Cornelia Sollfrank zusammen. Sie schuf das Netzmusikprojekt Improved Tele-vision. Make your choice and become avant-garde (2001), eine in der Geschwindigkeit variablen Abspieloption von Schönbergs Verklärter Nacht und stellte sich damit als Frau ans Ende einer illustren Ahnengalerie von Arnold Schönberg, Nam June Paik und Dieter Roth, wobei letztere Schönbergs Werk ums Vierfache verlangsamt und dann wieder ums Vierfache beschleunigt und als Edition veröffentlicht hatten, einen Eingriff, den Sollfrank nun dem Benutzer des Netzprojekts überlässt (http://artwarez.org/35.0.html, 16.7.2012).

 

Die genannten Komponistinnen der älteren Generation waren in jungen Jahren und in den von männlichen Kollegen bestimmten Kontexten weitgehend unbekannt und konnten bis zur Jahrtausendwende nur vereinzelt als Vorbilder für die jüngere Generation der Klangkünstler gelten. Eine Vernetzung unter Frauen hat in dieser Generation, möglicherweise auch, weil man sich nicht kannte und alle sehr verstreut tätig waren, nicht stattgefunden. Die jüngere Generation hat sich nun durch neue Strategien, die neben den künstlerischen auch soziale Vernetzung beinhalten, neue Perspektiven und Präsenzen geschaffen. Erfreulicherweise ist die Wiederentdeckung der Pionierinnen jedoch keine ausschließliche Frauenangelegenheit, sondern im allgemeinen musikgeschichtlichen Interesse.

Eine Vielzahl der genanten Werke ist in der Ausstellung Sound Art. Klang als Medium der Kunst ausgestellt.



  1. Pauline Oliveros, in: Alan Baker: „An interview with Pauline Oliveros“, American Public Media, 1/2003
  2. Exemplarisch für dieses Vergessen sei ein Archiv erwähnt: 1990 wurde das von internationalen Persönlichkeiten des zeitgenössischen Musiklebens kuratierte Archiv IDEAMA als Kooperation von ZKM Karlsruhe und CCRMA erstellt, das die wichtigsten frühen elektroakustischen Werke bis 1970 erhalten sollte. In der 708 Werke umfassenden Liste sind nur wenige Frauen mit einigen Werken: Beatrix Ferreyra, Pauline Oliveros, Else-Marie Pade, Bebe Barron.
  3. Daphne Oram (), baute nach dem Besuch der Weltausstellung in Brüssel und den Begenungen mit Schaeffer, Varèse etc. am BBC den Bereich x auf. Sie entwickelte insbesondere die auf audiovisueller Transformation beruhende Oramics-Maschine. Die Maschine entstand etwa parallel zum UPIC des Xenakis
  4. Amacher vernetzte schon 1967 in ihren City Links Musiker an dezentralen Orten, also zehn Jahre vor Max Neuhaus’ bekanntem Vernetzungsprojekt Radio net von 1977.
  5. Es ist auffällig, dass sich in den deutschen elektronischen Studios am WDR oder der TU Berlin keine Frau etablieren konnte.
  6. La Monte Young: Raga von Pandit Pran Nath; Eliane Radigue: Tibetanischer Buddhismus
  7. Eliane Radigue, in: Björn Gottstein: "Inseln der Resonanz – die elektroakustischen Erkundungen der Eliane Radigue", Rundfunk-Portrait bei Deutschlandradio Kultur, 2009.
  8. Auftrag von Electra (http://www.electra-productions.com/, 16.7.2012) für die Ausstellung „Her Noise“, London 2005.
  9. Siehe: http://musicforbodies.net. Kaffe Matthews Beschäftigung mit körperlichem Hören begann mit einem Sonic Armchair 1997.
  10. Susan McClary: Different Drummers. Interpreting Music by Women Composers, in: Freia Hoffmann, Jane Bowers, Ruth Heckmann (Hgg.): Frauen und Männerbilder in der Musik, Oldenburg 2000.
  11. Micah Silver_ Lagrange – Raum für Maryanne Amacher, Beschreibung zum Raum innerhalb der Ausstellung Sound Art. Klang als Medium der Kunst, ZKM Karlsruhe, siehe http://soundart.zkm.de/lagrangeraum-fur-marianne-amacher-2006-unvollendet-maryanne-amachermicah-silver/ 22.06.2012
  12. Christina Kubisch, geb. 1948, Wegbereiterin der Klangkunst, erste Professorin für Klangkunst in Saarbrücken